«Viele junge Ärzte fühlen sich körperlich und emotional erschöpft»

Eine 42-Stundenwoche für Assistenz- und Oberärzte? Ja, sagt Nora Bienz vom VSAO. Denn es könne kein Ziel sein, eine Elite 'heranzuzüchten', die dann ausbrennt.

, 30. Juni 2023 um 04:23
letzte Aktualisierung: 13. Januar 2025 um 10:44
image
«Die Assistenz- und Oberärzte arbeiten illegal so viel, ohne dass sie dabei ausgebildet werden»: Nora Bienz, Vizepräsidentin VSAO Schweiz. | Zvg
Frau Bienz, zerstört der VSAO mit seinem Vorhaben, eine 42 Stundenwoche einzuführen, einen Eliteberuf? Ich finde es per se schwierig, wenn sich eine Berufsgruppe als Elite bezeichnet und so vom Rest der Gesellschaft abheben möchte. Von zerstören kann keine Rede sein – vielmehr versuchen wir einen Beruf möglichst nachhaltig zu gestalten, so dass die jungen Leute diesem auch treu bleiben. Es kann kein Ziel sein, eine Elite ‘heranzuzüchten’, die bereit ist, alles zu opfern für den Beruf und dann ausbrennt.
Um ein guter Chirurg zu werden, braucht es doch genau diese Leidenschaft und die Bereitschaft, überdurchschnittlich zu arbeiten; oder nicht? Wir sind überzeugt, dass man auch ein guter Chirurg werden kann im Rahmen der normalen Arbeitszeiten. Es kann nicht das Ziel sein, dass man jenen Nachwuchs aussiebt, der nicht bereit ist, 150 Prozent zu arbeiten. Natürlich gibt es eine Selektion unter den jungen Chirurgen, aber diese darf nicht abhängig von der geleisteten Arbeitszeit gemacht werden. Vielmehr müssen Eigenschaften wie Interesse und Talent über eine chirurgische Karriere entscheiden.
Nora Bienz ist Oberärztin an der Universitätsklinik für Intensivmedizin am Inselspital Bern und Vizepräsidentin des Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte VSAO Schweiz.
Ist denn tatsächlich die Arbeitszeit ein so entscheidender Faktor für die zunehmende Unzufriedenheit der jungen Spitalärzte? 86 Prozent unserer in einer repräsentativen Umfrage befragten Mitglieder, wüschen sich eine tiefere Wochenarbeitszeit von 42 Arbeitsstunden – das sagt doch schon alles. Die Ungleichbehandlung zu allen anderen Arbeitnehmenden führt zur Unzufriedenheit; die heutige Generation ist nicht mehr bereit alles aufzugeben für den Beruf.
Und dennoch gibt es Kolleginnen und Kollegen, die mehr im Operationssaal stehen und nicht von strengen Arbeitszeiten ausgebremst werden möchten. Weshalb ist nicht eine variable Arbeitszeit von beispielsweise 55 Stunden möglich? Im Schnitt wird heute 56 Stunden gearbeitet! Die Assistenz- und Oberärzte arbeiten illegal so viel, ohne dass sie richtig ausgebildet werden. Ganz offensichtlich ist das also nicht der richtige Weg. Noch mehr Flexibilisierung führt letztlich nur dazu, dass die Ärzte noch mehr ausnutzt werden und weniger ein Auge darauf geworfen wird, dass sich die Spitäler besser organisieren.
«Die reine Arbeitszeiterhöhung wird das Problem nicht lösen, wenn die Weiterbildung innerhalb der Klinik keinen hohen Stellenwert geniesst.»
Zu viele Assistenzärzte, zu wenig Zeit im Operationssaal und zu wenig Weiterbildung – was läuft schief? Das Problem ist die fehlende Bereitschaft, die Klinikstrukturen effizient zu organisieren und die Weiterbildung zu strukturieren. Insbesondere in der Chirurgie herrscht ein grosser Aufholbedarf, die Organisationslücken aufzuarbeiten. Die Assistenten müssen sich mit Bürokratie und vielen Leerläufen herumschlagen und sind nicht dort, wo sie eigentlich sein möchten: beim Patienten. Das führt zur Frustration und die Ausbildung leidet.
Stichwort Aus- und Weiterbildung – wie soll diese mit einer 42 Stunden Woche in Zukunft möglich sein? Dazu muss präzisiert werden, dass sich die 42 Stunden auf die Zeit am Patientenbett bezieht und mindestens 4 Stunden strukturierte Weiterbildung hinzukommen. Vielen Kliniken gelingt es derzeit auch mit einer hohen Arbeitszeit nicht, ihre Leute vernünftig auszubilden. Es gibt offensichtlich ein Strukturproblem. Wenn chirurgische Assistenten 56 Stunden im Spital sind und nur zwei Stunden im Operationssaal stehen, dann ist dieses Spital schlichtweg schlecht organisiert. Die reine Arbeitszeiterhöhung wird das Problem nicht lösen, wenn die Weiterbildung innerhalb der Klinik keinen hohen Stellenwert geniesst.

Das 42+4-Konzept des VSAO

Der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte lancierte im Frühjahr 2023 die Forderung nach dem 42+4-Prinzip: Danach soll die wöchentliche Arbeitszeit für Assistenzärzte künftig durchschnittlich 42 Stunden Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung betragen. Zusätzlich sollen die Assistenzärzte Anrecht auf wöchentlich mindestens vier Stunden strukturierte Weiterbildung haben. Diese würde ebenfalls als Arbeitszeit gelten.
Werden generell nicht zu viele Chirurgen ausgebildet? Das ist ein Thema, vor allem wenn die einzige Antwort auf Überzeit die Anstellung von mehr Ärzten für Administrations- und Stationsarbeiten ist. Wenn man die Organisation verbessert und chirurgische Assistenten nicht mehr für Sekretariatsarbeiten ‘missbraucht’, dann bräuchte es möglicherweise weniger Assistenzärzte in der Chirurgie. Als Klinik muss man klar definieren, wieviele Assistenten man ausbilden kann und diese Ausbildung gut strukturieren. Es gilt auch ehrlich und fair jene zu selektionieren, die sich für den Beruf eignen.
Wie nehmen Sie aktuell die Stimmung bei den Assistenz- und Oberärzten wahr? Insgesamt hat der ‘Turnover’ in den Spitälern massiv zugenommen – wir betreuen heute viel mehr Patienten in kürzerer Zeit. Die Verdichtung des Arbeitsalltages ist stark spürbar und viele junge Ärzte fühlen sich körperlich und emotional erschöpft. Der administrative Aufwand und inhaltsleere, sinnlose Arbeiten wie auch die fehlende Wertschätzung, sind massgebliche Faktoren für die Unzufriedenheit. Die Arbeit am Patienten wird nach wie vor als grosse Bereicherung erlebt.
Es wird heute oft von einer verweichlichten Generation gesprochen. Gibt es einen Graben zwischen den Generationen? Ich denke schon. Die heutige Generation stellt Dinge mehr in Frage und vertritt ihre Anliegen und Bedürfnisse vehementer. Die Haltung kann man entweder bewundern und davon profitieren, oder man fühlt sich angegriffen. In den Spitälern arbeiten bis zu vier Generationen zusammen; da braucht es viel Kommunikation, damit das Miteinander funktioniert. Ich denke, Herrn Schöbs Polemik ist kontraproduktiv, weil er die Bedürfnisse der jungen Generation in keinster Weise ernst nimmt. Das Arbeitsgesetz setzt zum Schutz der Ärzte und der Patienten einen Rahmen und bietet dennoch eine erhebliche Flexibilität. Unsere Anstrengungen müssen dahingehen, die ärztliche Arbeit und Weiterbildung in diesem Rahmen zu verbessern.

Artikel teilen
  • Share
  • Tweet
  • Linkedin
  • Whatsapp
  • Telegram
Kommentar

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Was ist Ihr Beruf?

Wo arbeiten Sie?*

undefined
undefined

*Diese Angaben sind freiwillig. Sie bleiben im Übrigen anonym.
Warum bitten wir Sie darum? Medinside bietet Ihnen die Informationen und Beiträge kostenlos. Das bedeutet, dass wir auf Werbung angewiesen sind. Umgekehrt bedeutet es idealerweise auch, dass Ihnen auf Medinside möglichst nur Werbung gezeigt wird, die zu Ihnen passt und die Sie interessant finden könnten.
Wenn wir durch solche Erhebungen Angaben über das allgemeine Profil des Medinside-Publikums gewinnen, nützt dies allen: Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, uns und unseren Kunden. Vielen Dank!


Mehr zum Thema

image

«Als Arzt nach Deutschland – warum nicht?»

Für Schweizer Assistenzärzte kann die Arbeit an einem deutschen Krankenhaus interessant sein. Die Nachfrage steige, sagt Martin Werner von DocsGoSwiss im Kurzinterview.

image

Münchner Arzt vor Gericht wegen Sex während Darmspiegelung

Ein Arzt soll während Koloskopien 19 Patientinnen sexuell missbraucht haben. Er sagt, die Vorwürfe seien erfunden und eine Intrige.

image

Pflege- und Ärztemangel: Rekordwerte bei offenen Stellen

Die Gesundheitsbranche bleibt führend bei der Suche nach Fachkräften. Laut dem neuen Jobradar steigen die Vakanzen in mehreren Berufen wieder – entgegen dem allgemeinen Trend auf dem Arbeitsmarkt.

image

Im Schaufenster stehen vor allem unwirksame Medikamente

Bieler Ärzte schlagen eine neue Etikette für rezeptfreie Arzneimittel vor. Sie soll zeigen, wie verlässlich die Wirksamkeit nachgewiesen worden ist.

image

Zukunftsvisionen für die Gesundheitsversorgung

Beim Roche Forum 2024 diskutierten Expertinnen und Experten zentrale Herausforderungen der Schweizer Gesundheitsversorgung und setzten wertvolle Impulse für die Zukunft.

image

Kantonsspital Uri: Zulage für Flexibilität, tiefere Arbeitszeiten

Das Kantonsspital in Altdorf hat einen neuen Gesamtarbeitsvertrag abgeschlossen.

Vom gleichen Autor

image

«Das Spital wird als rechtsfreier Raum wahrgenommen»

Gewalttätige Patienten und Angehörige belasten das Gesundheitspersonal – doch Konsequenzen haben sie kaum zu fürchten. Das muss ändern, sagt Pflegefachmann und Aggressions-Trainer Stefan Reinhardt.

image

Alzheimer: «Für die Früherkennung eröffnen sich neue Perspektiven»

Demenz-Erkrankungen dürften sich in den nächsten 25 Jahren verdoppeln. Alzheimer-Forscher Julius Popp von der Klinik Hirslanden erläutert, welche Hoffnungen bestehen.

image

«Der Regulierungswahn zerstört die Qualität der jungen Chirurgengeneration»

Es hat sich viel Frust aufgestaut bei den Chirurgie-Assistenten. Ein junger Arzt gibt Einblick in seinen Alltag.