Ich schätze es sehr, wenn mehr über den Nutzen der Medizin gesprochen wird – die Perspektive darauf ist aber insbesondere bei sterbenskranken Menschen oft sehr einseitig.
Im Artikel
«Macht man im Alter zu viel des Guten» vom 17. Oktober 2023 wird der Palliativmediziner Andreas Weber mit den Worten zitiert: «Wir machen ganz viel in den Spitälern, was dem Patienten wenig bringt oder sogar schadet.»
«Im Vorfeld ist oft nicht eindeutig zu sagen, ob eine Behandlung dem Patienten wenig bringt oder sogar schadet».
Diese Probleme gibt es natürlich. Sie entstehen aber aus einer sehr komplexen Situation heraus und lassen sich nicht verallgemeinern: Zum einen ist im Vorfeld oft nicht eindeutig zu sagen, ob eine Behandlung dem Patienten wenig bringt oder sogar schadet.
Wie Medinside im Artikel auch erwähnt, besteht bei Patienten vielfach auch eine grosse Ambivalenz: Sie wollen Behandlungen noch probiert haben und sind nicht unbedingt bereit, die Hoffnung auf Lebensverlängerung aufzugeben.
«Der revidierte Tarif Tardoc sieht auch Palliative Care im ambulanten Bereich vor, wird aber seit Jahren durch den Bundesrat blockiert.»
In dieser Situation ist es nicht einfach, zur Entscheidung für einen Behandlungsverzicht zu kommen. Es braucht dann vor allem von dem, was im Gesundheitswesen am wenigsten vorhanden ist: Zeit. Hier erleben wir seit Jahren einen massiv steigenden Druck, zum einen durch den letztlich politisch provozierten Fachkräftemangel, zum anderen durch den Druck im Tarifbereich wie zum Beispiel durch Limitationen von Gesprächszeiten. So sieht der revidierte Tarif Tardoc endlich auch Palliative Care im ambulanten Bereich vor, wird aber seit Jahren durch den Bundesrat blockiert.
Wenn Andreas Weber sagt, es würden «Behandlungen angeboten, ohne abzuklären, wo der Patient steht, ob er überhaupt an lebensverlängernden Massnahmen interessiert sei», kann dies keinesfalls verallgemeinernd als Analyse für unser Gesundheitswesen gelten. Dies hat zuletzt ein Nationalforschungsprogramm zum Thema explizit festgehalten.
«In 80 Prozent aller absehbaren Todesfälle nehmen Ärzte und Ärztinnen eine Lebenszeitverkürzung mindestens in Kauf».
Ein
Synthesebericht des Nationalforschungsprogramms zeigt, dass heutzutage die allermeisten Todesfälle absehbar sind und in vier von fünf, also 80 Prozent aller absehbaren Todesfälle, Ärzte und Ärztinnen Entscheidungen treffen, die eine Lebenszeitverkürzung mindestens in Kauf nehmen.
Zudem ist der Anteil von Patienten mit Behandlungsabbruch beziehungsweise Behandlungsverzicht innerhalb von zwölf Jahren von 41 auf 49 Prozent gestiegen. Das Leben wird also nicht um jeden Preis verlängert, das Gegenteil ist die Regel – und dies immer mehr.
Ausserdem zeigte das Nationalforschungsprogramm, dass nur sehr wenige Patienten am Lebensende extrem teure Behandlungen im Spital in Anspruch nehmen.
«Es vermittelt einen falschen Eindruck, wenn in der öffentlichen Diskussion weiter das Bild vieler teurer und verzichtbarer Behandlungen am Lebensende gepflegt wird.»
Höhere Kosten fallen vor allem bei jüngeren Patienten an. Für diese zeigte eine
Studie vom Gesundheitsökonomen Konstantin Beck, dass nur 4 Prozent unter diesen jungen Patienten am Lebensende sehr hohe Kosten verursachen. Bei den Senioren fallen nur 2 Prozent der Sterbenden in diese Hochkostenkategorie. Es vermittelt darum einen falschen Eindruck, wenn in der öffentlichen Diskussion weiter das Bild vieler teurer und verzichtbarer Behandlungen am Lebensende gepflegt wird.
Wir setzen uns sehr dafür ein, dass Behandlungen am Lebensende den Nutzen für den Patienten fokussieren. Unter anderem haben wir dafür erst im letzten Jahr die Patientenverfügung revidiert, die wir auf unserer
unserer Webseite anbieten.
«Würde man endlich die palliative ambulante Versorgung stärken, könnte man sowohl Kosten sparen als auch Lebensqualität am Lebensende erhöhen.»
Wichtig sowohl für die Versorgung Sterbenskranker als auch für die Kostenentwicklung wäre ausserdem eine Stärkung des ambulanten Bereichs. Die meisten Menschen wollen daheim sterben, sterben dann aber doch sehr häufig im Spital. Das ist deutlich teurer und entspricht auch nicht dem Willen der Patienten.
Würde man endlich die palliative ambulante Versorgung stärken, könnte man sowohl Kosten sparen als auch Lebensqualität am Lebensende erhöhen. Dies haben wir im Tardoc abgebildet. Die Genehmigung des Tardoc und der Ausbau von Palliative Care mit Hilfe ausreichender Fachpersonen wäre ein wichtiger Schritt.
Yvonne Gilli ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und Präsidentin des Ärztedachverbands FMH.