Vor gut einem Jahr fällte das Bundesgericht einen weitreichenden Entscheid: Pflege- und Betreuungspersonen, welche eine so genannte «Live-in-Betreuung» im Privathaushalten machen, seien dem Arbeitsgesetz unterstellt und müssten deshalb die tägliche Ruhezeit einhalten. Diese dürfe auch nicht durch kurze Pikett-Einsätze unterbrochen werden.
Braucht es jetzt doppelt so viel Personal?
Weitreichend ist der Entscheid deshalb, weil das bedeutet, dass eine solche Betreuung via Personalverleih nur noch mit einem Schichtbetrieb von mindestens zwei Personen gewährleistet werden kann. Die Kosten könnten sich dadurch verdoppeln und der Bedarf an Pflegefachkräften steigen.
Diese Befürchtungen haben den Schaffhauser SVP-Ständerat Hannes Germann auf den Plan gerufen. Er fürchtet einen «Kahlschlag bei der Betreuung in privaten Haushaltungen». Deshalb forderte er vom Bundesrat, das Bundesgerichtsurteil nicht so genau zu nehmen. Konkret wollte er erreichen, dass der Bundesrat den Firmen, die solche Betreuungen anbieten, entgegenzukommen und ihnen eine Übergangsfrist gewähren soll. Ausserdem schlug er vor, eine «pragmatische Lösung» zu finden.
«Missachtung des Bundesgerichts»
Für den Gesundheitsökonom Heinz Locher ist ein solches Ansinnen eine Missachtung des Bundesgerichtsurteils. Er kritisiert Germann dafür, dass er den Bundesrat dazu aufgefordert hat, das Urteil nicht so ernst zu nehmen.
Das tat der Bundesrat denn aber auch nicht. Er sei sich zwar bewusst, dass solche Live-in-Betreuung, bei welcher die Pflegerin im gleichen Haus wohnt, immer mehr gefragt sei. Derzeit dürften 10'000 bis 30'000 Personen in Privathaushalten zur Pflege und Betreuung von Betagten angestellt sein.
Absage an Germann
Trotzdem erteilte der Bundesrat dem Ansinnen von Ständerat Germann eine klare Absage: «Das Bundesgerichtsurteil ist in Rechtskraft erwachsen und gilt. Die Gewaltentrennung verunmöglicht es dem Bundesrat, eine Übergangsfrist einzuräumen. Es liegt in der Verantwortung der entsprechenden Unternehmen, den betreuten Personen eine gesetzeskonforme Lösung anzubieten», antwortete er auf den Vorstoss.
Der umstrittene Arbeitsvertrag
Der Arbeitsvertrag, den das Bundesgericht zu beurteilen hatte, sah haarsträubende Arbeitsbedingungen vor: Eine Seniorenbetreuerin sollte jeweils 21 Tage lang während 24 Stunden arbeiten und beim Kunden wohnen. Danach sollte sie von einer anderen Mitarbeiterin für die Dauer von 21 Tagen abgelöst werden. Der Schweizerische Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) kritisierte, dass ein solcher Arbeitsvertrag die arbeitsgesetzlichen Höchstarbeits- und Ruhezeitvorschriften nicht einhalte und fand erst beim Bundesgericht Unterstützung. Denn der Kanton Basel -Stadt urteilte, dass das Arbeitsgesetz für Personen, die zur 24-Stunden-Betreuung in Privathaushalten beschäftigt werden, nicht gelte.
Der Bundesrat wollte auch nicht schon im Voraus darüber urteilen, ob das Bundesgerichtsurteil die Betreuung zuhause wirklich massiv verteuern werde.
Seco lockert vielleicht
Es könnte aber sein, dass das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) Sonderbestimmungen für diese Branche ausarbeiten könnte. Solche Lockerungen des Gesetzes hat das Seco letztmals vor vier Jahren fürs Gastgewerbe und für Informatik- und Kommunikationstechniker eingeführt.
Die Betreuung und Pflege von Betagten ist ein immer drängenderes Problem. Gesundheitsökonomen wie Heinz Locher warnen vor einem drastischen Engpass. In den nächsten 20 Jahren werden in der Schweiz eine Million Menschen aus der Babyboomer-Generation 80-jährig. Locher ist überzeugt: Für diese Generation brauche es nicht mehr Spitäler und Pflegeheime, sondern mehr Betreuung zu Hause.
Locher für bessere Arbeitsbedingungen
Im Gegensatz zu Ständerat Hannes Germann ist er allerdings der Überzeugung, dass es in dieser Branche
geregelte Einkommen und nicht 24-Stunden-Dienste und Arbeit auf Abruf brauche.