Herr Streit, kaum eine Woche vergeht, ohne dass eine Zeitung über miserable Arbeitsbedingungen in privaten Pflegeheimen berichtet. Wo klemmts?Schön wäre es, wenn wir eine einfache Lösung hätten, so dass der Mensch im Alter nicht gebrechlich werden müsste. Das Problem liegt nicht in den Institutionen, sondern in der allgemein schwierigen Situation für Heimbewohner, Angehörige und Pflegepersonal. Wenn man eine Dienstleistung in Anspruch nimmt, ist das meistens eine erfreuliche Sache. Wenn man aber die Pflege in Anspruch nehmen muss, hat man schon grundsätzlich eine negative Einstellung dazu.
Wir sprechen hier nicht von den Pflegebedürftigen, sondern von den Pflegenden, die angeblich mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden sind.Das kann man so nicht sagen. Studien belegen das Gegenteil dessen, was man gemeinhin behauptet. Ich denke an die Studie SHURP der Uni Basel. In Pflegeheimen hat sie eine Zufriedenheitsquote von über 85 Prozent eruiert, die analoge Studie RN4CAST in Spitälern dagegen von unter 80 Prozent.
Die SHURP-Studie liegt schon vier Jahre zurück. Seither soll der Druck auf die Pflegenden stark zugenommen haben.Das müssen wir leider aus finanzpolitischen Gründen bestätigen. Darunter leiden wir alle, weil Kantone und Gemeinden als Restfinanzierer der Pflege überall sparen, wo sie nur können, insbesondere auch in der Pflege.
Der Spardruck der öffentlichen Hand ist aber kein neues Phänomen.Seit Einführung der neuen Pflegefinanzierung im 2011 ist betraglich begrenzt, was Patienten und Versicherer an die Pflege bezahlen müssen. Die gesamte Kostensteigerung geht somit auf Kanton und Gemeinden. Sie sind die Leidtragenden.
Es sind aber nicht die Kantone und Gemeinden, die sich über die schlechten Arbeitsbedingungen beklagen, sondern die Pflegenden.Ja, weil die Kantone ihre Beiträge kürzen und – zum Beispiel – gleich viel bezahlen wie 2011, so dass die gesamte Kostensteigerung im Haus aufgefangen werden muss: durch mehr Effizienz, weniger Personal, durch eine beschränkte Infrastruktur.
«Wenn an allen Enden und Ecken gespart werden muss, gibt es eine aufgeladene Atmosphäre. Man fühlt sich nicht mehr wohl; man kann nicht die beste Pflege leisten.»
In diversen Medien wurden die Arbeitsbedingungen kritisiert. Sogar von Mobbing ist die Rede.Das ist eine Folge der schwierigen Verhältnisse, wie ich sie eingangs geschildert habe. Wenn an allen Enden und Ecken gespart werden muss, gibt es eine aufgeladene Atmosphäre. Man fühlt sich nicht mehr wohl, man kann nicht die beste Pflege leisten, wie man sich das vorstellt, und man ist eingeschränkt wegen der Rahmenbedingungen. Man hat das Gefühl, man werde von oben gedrückt. Man hat das Gefühl, viel zu viel dokumentieren zu müssen, damit die Finanzen im Lot bleiben.
Das ist eine Bankrotterklärung.Nein, aber es ist eine Tatsache, wie sich die mangelnde Finanzierung in den letzten Jahren ausgewirkt hat. 6 Prozent der Ausgaben der Krankenversicherer fliessen in Pflegeheime; über 80 Prozent werden für Spitäler, Ärzte und Medikamente bezahlt. Da frage ich mich, ob das Geld hier nicht falsch verteilt wird.Gut, die Pflegefinanzierung und der damit einhergehende Spardruck ist eine Tatsache. Was machen Sie dagegen? Man probiert, die weichen Faktoren zu optimieren. Es hat sich in der Studie gezeigt: Lohn und Arbeitszeiten sind nicht die massgeblichen Faktoren. Viel wichtiger sind die weichen Faktoren: die Führung, der Teamgeist, die Zusammenarbeit, die Einsatzzeiten. Man muss das Umfeld attraktiver gestalten, da man bei den Löhnen gebunden ist.
«Es stimmt, dass die Unia gezielt unzufriedene Leute sucht, um ihre Negativkampagne zu führen. Dies mit dem Ziel, Mitglieder zu gewinnen und am Schluss Gesamtarbeitsverträge abschliessen zu können.»
Es wird gesagt, dass die Medienkampagne von der Unia orchestriert wird. Es stimmt, dass die Unia gezielt unzufriedene Leute sucht, um ihre Negativkampagne zu führen. Dies mit dem Ziel, Mitglieder zu gewinnen und am Schluss Gesamtarbeitsverträge abschliessen zu können.
Warum gibt es in der Pflege kaum GAVs?Es gibt sehr wohl Gesamtarbeitsverträge. In der Romandie sind sie sehr verbreitet. Im Kanton Waadt beispielsweise ist jedes Pflegeheim einem GAV unterstellt. Auch in Neuenburg ist ein Teil der Betriebe einem GAV unterstellt.
Warum nicht in der Deutschschweiz?Es ist auch eine Kostenfrage. Es stellt sich die Frage, ob man die Kosten auf sich nehmen will, die ein GAV mit sich bringt. Zumal die weichen Faktoren, die für die Zufriedenheit der Mitarbeitenden entscheidend sind, im GAV nicht vereinbart werden können
Ein GAV muss ja nicht zwingend teuer sein, oder?Der GAV verursacht viele Kosten. Er ist immer auch mit Kontrollen verbunden, was jemand bezahlen muss. Auch die Verhandlungen sind zeitraubend. Zeit ist Geld.
Sie übertreiben.Im Kanton Bern ist es dem Arbeitgeberverband Dedica mit seinen 17 angeschlossenen Betrieben gelungen, einen wirklich kostengünstigen GAV auszuhandeln. Jedem Mitarbeiter werden vom Lohn monatlich 4 Franken abgezogen. Aber wenn man diesen Betrag auf 50'000 Pflegefachpersonen hochrechnet, so kommen wir im Jahr auf einen Betrag von 2,5 Millionen Franken.
Dies allein für die Verwaltung des GAV?Ja. Noch einschneidender ist die grundsätzliche Kostensteigerung. Ein Kollege aus dem Kanton Neuenburg hat mir kürzlich vorgerechnet, was er dem Kanton an Pflegerestkosten in Rechnung stellt. Wäre er dem GAV «CCT21» unterstellt, würde diese von Neuenburg zu bezahlende Rechnung jährlich um 300'000 bis 340'000 Franken höher ausfallen. Und das für eine Institution mit knapp 50 Betten.
«Nicht jede Gewerkschaft führt als oberstes Ziel die Etablierung von Gesamtarbeitsverträgen.»
Dafür käme das Personal in den Genuss höherer Löhne. Das ist ja nicht per se schlecht.
Richtig. Aber würde man dieses Geld dem Personal direkt geben, erhielte es viel mehr, als es im GAV vereinbart wurde.
Die traditionelle Gewerkschaft der Pflegeberufe ist ja der VPOD. Auch ihm ist es bisher nicht gelungen, eine bessere Durchdringung von GAV's zu bewerkstelligen.Nicht jede Gewerkschaft führt als oberstes Ziel die Etablierung von Gesamtarbeitsverträgen. Viele Arbeitnehmer haben einen GAV gar nicht nötig, insbesondere im Pflegebereich. Wir reden ja schon lange vom Pflegefachpersonalmangel. 95 Prozent der Pflegeheime der Deutschschweiz haben grösste Mühe, Leute zu finden. Gut ausgebildete Pflegende können sich den Arbeitgeber aussuchen und die Konditionen zu einem grossen Teil selber vorgeben, wenn sie einen Arbeitsvertrag abschliessen. Deshalb hat die Unia nur einen geringen Zulauf aus diesen Schichten. Und auch ausländische Arbeitnehmende sind bereits geschützt, ihnen müssen die Betriebe orts- und branchenübliche Löhne bezahlen.
Also bräuchte es nach Ihrer Ansicht gar keine Gewerkschaften.Der VPOD kämpft derzeit dafür, dass die Pflege in der Geschäftsleitung des Inselspitals vertreten bleibt. Damit ist den Pflegenden sicherlich mehr gedient als mit Gesamtarbeitsverträgen.
Wie nehmen Sie die Unia im Vergleich zum VPOD wahr?Sie sind völlig anders aufgestellt, obschon beide dem Gewerkschaftsbund angehören. Der VPOD hat eine andere Art, mit dem Arbeitgeber umzugehen als die Unia. Unia ist seit jeher kampfmässig als Opposition aufgetreten. Der VPOD sucht den konstruktiven Dialog. Das ist auch mit seiner Herkunft zu erklären.
Welche Strategie ist erfolgreicher?In der Pflegebranche sicher jene des VPOD. Nehmen Sie das Beispiel von Dedica. Nicht die Unia, sondern der VPOD hat zusammen mit dem SBK einen GAV ausgehandelt. Die Unia wollte sogar die Verhandlungen torpedieren. Aber das haben
Sie ja selber schon geschrieben.
Der Verband Senesuisse ist ein Zusammenschluss wirtschaftlich unabhängiger Alters- und Pflegeeinrichtungen der Schweiz, dem über 370 Mitgliederheime in der Deutschschweiz und der Romandie angeschlossen sind. Er engagiert sich gegen ständig steigende Vorschriften, Bürokratie und Administrativaufwand im Bereich des Gesundheitswesens.
Doch den Qualitätskontrollen, wie sie laut KVG vorgeschrieben sind und von den meisten Leistungserbringern ignoniert werden, kann sich auch Senesuisse nicht entziehen. Wie berichtet, sollen ab 2018 in allen Pflegeheimen der Schweiz identische medizinische
Qualitätsindikatoren erhoben werden.