Alkoholsucht: «Versicherer wälzen Kosten sowieso um»

«Sucht Schweiz» mobilisiert gegen den Alkoholverkauf in der Migros. Dass sich weder Politik noch Versicherer einschalten, stösst bei der Stiftung auf Unverständnis.

, 23. Mai 2022 um 05:46
image
In der Schweiz leben laut Berechnungen der Stiftung Sucht Schweiz rund 250'000 bis 300'000 alkoholabhängige Menschen. Damit nicht genug: Rund 11'500 Personen landen pro Jahr mit einer Alkoholvergiftung in einem Schweizer Spital; etwa 1'550 Menschen sterben jährlich an den Folgen von Alkohol. Bedenklich: Alkohol ist bei jungen Männern die Todesursache Nummer eins.
«Alkoholsucht birgt jedoch nicht nur grosse Risiken für die Gesundheit, sondern führt zu erheblichen Kosten für die Gesellschaft», schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Diese belaufen sich jährlich auf 7,7 Milliarden Franken. Während Tabak mit 3,9 Milliarden Franken der grösste Kostenfaktor darstellt, folgt der Alkohol an zweiter Stelle mit rund 2,8 Milliarden. 
Die Krux: Im Gegensatz zu illegalen Drogen ist die legale Droge Alkohol relativ günstig und rund um die Uhr verfügbar; seit Anfang 2021 auch wieder an Autobahnraststätten. 

«Dort können Menschen mit Alkoholproblemen einkaufen, ohne ständig in Versuchung zu geraten.»

Markus Meury, Mediensprecher Stiftung Sucht Schweiz
Die einzige alkoholfreie Geschäfts-Zone des Landes ist die Migros. «Dort können Menschen mit Alkoholproblemen einkaufen, ohne ständig in Versuchung zu geraten», sagt Markus Meury, Mediensprecher der Stiftung Sucht Schweiz.
Das könnte sich bald ändern: Bis zum 4. Juni können die Genossenschafterinnen und Genossenschafter der Migros darüber abstimmen, ob das seit dem Jahr 1928 geltende Verkaufsverbot für Alkohol aufgehoben werden soll, oder nicht - eine Diskussion, die inzwischen zum Politikum geworden ist.
image
Die Stiftung Sucht Schweiz mobilisiert gegen den Alkoholverkauf in der Migros. | zvg

Kampagne gegen Alkoholverkauf  

Pünktlich zu Beginn der Urabstimmung über den Alkoholverkauf hat Sucht Schweiz letzte Woche eine Kampagne mit Plakaten, Videos und einem «Liebesbrief» an die Migros, den die Bevölkerung mitunterzeichnen kann, gestartet. 
«Wir wollen, dass die Migros so bleibt, wie sie ist. Die meisten Menschen mögen den Grosshändler, weil er eben keinen Alkohol verkauft», sagt Meury gegenüber Medinside. «Zudem ist die Migros die letzte Einkaufsgelegenheit für die 250'000 alkoholkranken Menschen und unzählige, die die Sucht überwunden haben.» Die Kampagne sei bisher auf gutes Echo gestossen. Sucht Schweiz habe aber noch keine Auswertung gemacht.

Alkoholsucht «wird zunehmen»

«Die Migros verfügt über rund 900 alkoholfreie Verkaufspunkte (inklusive Restaurants). Bei einem Vertrieb von Billigalkohol und entsprechender Werbung werden die Alkoholprobleme in der Schweiz zunehmen», warnt Meury.
Gegen den Alkoholverkauf engagiert sich auch die «Gruppe für die M-Werte», eine Organisation, die von ehemaligen Migros-Kaderleuten ins Leben gerufen wurde, darunter der frühere Migros-Direktor Herbert Bolliger und der frühere Migros-Cheflobbyist Martin Schläpfer.

Sucht Schweiz rügt Versicherer

Dass sich weder die Politik noch die Krankenkassen hinsichtlich des Themas Migros-Alkoholverkauf bemerkbar machen, ist für Sucht Schweiz unverständlich. 
«Gerade in Anbetracht der Kosten, die Alkoholmissbrauch verursacht, müsste die Politik doch interessiert sein», so Meury. Bei den Krankenkassen habe man schon bei der Initiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung» kaum auf Unterstützung gestossen. «Die Versicherer können die Kosten letztlich sowieso auf den Prämienzahler umwälzen.»

Was die grössten Versicherer der Schweiz zu dieser Kritik sagen? Medinside hat nachgefragt. Das Update folgt am Donnerstag. 

Alkoholkonsum: BAG-Zahlen und -Fakten 

Die meisten Menschen geniessen alkoholische Getränke bei speziellen Gelegenheiten und in gemütlichen Runden. Jeder fünfte konsumiert Alkohol jedoch missbräuchlich.
«Alkoholmissbrauch stört das Zusammenleben, schädigt die Gesundheit und verursacht erhebliche Kosten. Das BAG engagiert sich mit weiteren Präventionspartnern für einen Alkoholgenuss mit Respekt», schreib das Bundesamt für Gesundheit.
Das sind die Zahlen und Fakten:

  • knapp fünf Prozent der Bevölkerung trinkt chronisch risikoreich, sprich zu häufig zu viel (bei Frauen 2 und bei Männern 4 Standardgläser pro Tag). 
  • Geschätzte 250 000 bis 300 000 Personen in der Schweiz sind alkoholabhängig.
  • Zirka jede dritte Person in der Schweiz hat mindestens eine Person mit Alkoholproblemen in ihrem Umfeld.
  • Männer trinken generell risikoreicher als Frauen, die Frauen holen aber tendenziell auf.
  • 2017 verursachte Alkohol in der Schweiz 1553 Todesfälle bei Personen zwischen 15 und 74 Jahren.
  • Krebserkrankungen trugen zu 36 Prozent und Erkrankungen des Verdauungssystems zu 21 Prozent zu diesen Todesfällen bei. Unfälle und Verletzungen waren ebenfalls für 21 Prozent der Todesfälle verantwortlich.
  • Bei jedem achten tödlich oder mit Schwerverletzten ausgehenden Verkehrsunfall in der Schweiz ist Alkohol im Spiel. Am Wochenende ist es sogar jeder zweite Unfall.
  • Ein chronisch risikoreicher Alkoholkonsum erhöht das Risiko für alkoholbedingte Krankheiten wie Krebs, Organschädigungen, Herzinfarkt und psychische Krankheiten sowie die Gefahr eine Abhängigkeit zu entwickeln.

Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Pierre-Yves Maillard will den Krankenkassen die Beteiligung an Leistungserbringern verbieten

Der SP-Ständerat wittert eine ungute Doppelrolle der Krankenkassen.

image

Abschaffung des NC? «Finden wir nicht gut»

Dass der Numerus Clausus abgeschafft wird, stösst bei Medizinstudenten auf wenig Begeisterung. Sie fürchten Qualitätseinbussen.

image

Direktorin des neuen Krankenkassen-Verbands ist eine Ex-Kaderfrau von Curafutura

Saskia Schenker wird nächstes Jahr die Leitung des Verbands Prioswiss übernehmen.

image

Idee: Eine «fünfte Säule» für die Langzeit-Pflege

Die Denkfabrik Avenir Suisse schlägt ein Pflege-Sparkonto im Stile der Pensionskassen vor. Die angesparte Summe würde die Belastung von Krankenkassen und Staat senken – und könnte auch vererbt werden.

image

Luzern: Referendum gegen neues Spitalgesetz

Die Luzerner Grünliberalen sind gegen die Festlegung des Leistungsangebots der Spitäler im Gesetz.

image

Hirslanden: Daniel Liedtke geht zu Helsana

Der CEO der Privatspital-Gruppe soll nächstes Jahr aufs Verwaltungsratspräsidium des Versicherers wechseln.

Vom gleichen Autor

image

Kinderspital verschärft seinen Ton in Sachen Rad-WM

Das Kinderspital ist grundsätzlich verhandlungsbereit. Gibt es keine Änderungen will der Stiftungsratspräsident den Rekurs weiterziehen. Damit droht der Rad-WM das Aus.

image

Das WEF rechnet mit Umwälzungen in einem Viertel aller Jobs

Innerhalb von fünf Jahren sollen 69 Millionen neue Jobs in den Bereichen Gesundheit, Medien oder Bildung entstehen – aber 83 Millionen sollen verschwinden.

image

Das Kantonsspital Obwalden soll eine Tochter der Luks Gruppe werden

Das Kantonsspital Obwalden und die Luks Gruppe streben einen Spitalverbund an. Mit einer Absichtserklärung wurden die Rahmenbedingungen für eine künftige Verbundlösung geschaffen.