Im März 2020 sahen wir uns konfrontiert mit einem neuartigen Coronavirus, das sich rasch weltweit ausbreitete und bei einem Teil der Menschen sehr schwere Infektionsverläufe inklusive tödlichem Ausgang hervorrief. Die Erfahrungen mit Coronavirus-Pandemien waren im Gegensatz zum Influenzavirus beschränkt. SARS im Jahr 2003 konnte relativ gut durch Isolation der stationären Fälle, Kontaktverfolgung sowie Quarantäne eingedämmt werden. MERS blieb seit 2012 mehrheitlich ein regionales Virus mit wiederholten Ausbrüchen auf der arabischen Halbinsel. SARS-Cov-2 breitete sich allerdings bereits frühzeitig und unbemerkt als mehrheitlich leichter Atemwegsinfekt in der breiten Bevölkerung aus. Es fanden sich auch Hinweise auf eine hohe präsymptomatische Viruslast und damit wahrscheinlich eine Ansteckungsfähigkeit bereits vor Symptombeginn (1-3). Auch wurde eine asymptomatische Ausbreitung vermutet (4). Die klassischen Mittel der Seuchenbekämpfung früherer Tage mit Isolation Erkrankter und Quarantäne eventuell Infizierter erschienen uns rasch als ungenügend. Wir ergänzten sie daher mit weiteren sogenannten nicht pharmazeutischen Interventionen (im Folgenden Massnahmen genannt). Das war in diesem weltweiten Umfang erstmalig in der Geschichte. Man sollte daran erinnern, dass sich der berühmte Virologe und Immunologe Prof. Henderson noch 2006 bei der Vogelgrippe stark gegen genau die Massnahmen aussprach, die wir jetzt so fleissig befolgen (5). Man darf und man sollte festhalten, dass wir hiermit ein gross angelegtes medizinisch-epidemiologisches Experiment eingingen.
In diesem Sinne ist es üblich, sich nach einer gewissen Dauer des Experiments die Frage nach erreichter Wirkung und erzeugtem Schaden zu stellen. Im wissenschaftlichen Bereich erfolgte die Analyse und der Diskurs über Nutzen und Schaden dieser Massnahmen auch tatsächlich sehr früh, bereits nach Abklingen der ersten Welle. Allerdings folgte 2020 fast gar keine und auch 2021 eine immer noch viel zu geringe öffentliche, gesellschaftliche und politische Debatte über die Frage, ob das erwünschte Ziel erreicht wurde und ob die Massnahmen sinnvoll und verhältnismässig gewesen waren. Schliesslich haben wir mit bemerkenswert geringem Widerstand einen Grossteil unserer freiheitlichen Grundrechte beschränken lassen mit dem noblen Ziel Gesundheit und das Leben anderer Menschen und auch von uns selbst zu schützen. Kritische Stimmen, auch solche von epidemiologischen Fachleuten, wurden bisher in sehr unschöne Ecken gestellt und damit aus dem Diskurs verbannt. Das Anliegen dieses Artikels ist es genau diese Debatte über Nutzen und Schaden jetzt anzustossen in Hinblick auf zukünftige Pandemien oder allein schon die kommenden Winter. Denn bei dem raschen Aufkommen von SARS-CoV-2 Varianten und der gleichzeitig sehr fokussiert erzeugten Immunität auf nur ein Oberflächenprotein ist ein dauerhafter Erfolg einer reinen Impfstrategie nicht garantiert.
Ziel der Massnahmen war grob formuliert, die präsymptomatische Übertragung zu unterbinden durch eine generelle Reduktion der zwischenmenschlichen Kontakte und einen möglichst sicheren Ablauf dieser Kontakte, sofern sie nicht vermeidbar sind. Das indirekte Ziel der Massnahmen und der Reduktion der „Fallzahlen“ war es, Todesfälle sowie schwere Verläufe und damit verbunden eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Die Massnahmen umfassen einerseits die mehrheitlich freiwillige Einhaltung der Basismassnahmen: Händedesinfektion, Körperkontakt meiden und Abstand halten, mit Infektsymptomen daheim bleiben, private Treffen und Freizeitaktivitäten reduzieren. Der Nutzen ist hierbei allerdings schwer messbar, da diese Basismassnahmen durchgehend empfohlen sind und unterschiedlich stark / schwankend eingehalten werden. Offiziell beschlossene und verordnete Massnahmen umfassen das Tragen einer Mund-Nasen-Maske, Schliessung von Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten, Geschäften, Restaurants, Kulturbetrieben, Ausgangssperren, Verbot von Grossveranstaltungen, Reisebeschränkungen und eine Pflicht zum Home Office. Am sinnvollsten wäre es, den Nutzen separat für jede Massnahme zu untersuchen, allerdings wurden mit Aussnahme der Masken viele offizielle Einschränkungen oft als Paket, als sogenannter „Lockdown“ begonnen.
Was gab es nun bisher an wissenschaftlichen Untersuchungen? Explizit möchte ich hier Studien mit epidemiologischen Modellen ausschliessen, die lediglich Hochrechnungen und Prognosen für den zukünftigen Verlauf machen. Diese haben rückblickend auf die erste Welle im März-Mai 2020 teilweise grotesk falsch gelegen (6) und sind stark abhängig von den eingesetzten Variablen und Annahmen (7). Für die Beurteilung des Erfolgs dieses Experiments sind letztlich nur Studien von Bedeutung, die retrospektiv vorhandene Daten über den realen Verlauf der Pandemie in den verschiedenen Ländern betrachten. Eine Fülle an Studien hat dabei eine unterschiedlich grosse Reduktion der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus, also des Reproduktionswertes R durch die Massnahmen feststellen können (8-17). Teilweise war dieser Einfluss aber gering. Allerdings muss man hier bereits einschränkend anmerken, dass sich die Kehrtwende (also eine Reduktion von R, teilweise schon unter den Wert von 1) bereits vor Beginn der offiziellen Massnahmen zeigte (Grafik 1). Also waren verschiedene Einflüsse auf die Virusausbreitung bereits vor diesen Massnahmen wirksam und sehr wahrscheinlich auch nach deren Beginn und der gemessene Einfluss der Massnahmen könnte auch nur eine Koinzidenz gewesen sein. Die freiwillige Verhaltensänderung in Bezug auf die erwähnten Basismassnahmen kann eine Rolle beim Rückgang der Infektionszahlen spielen, wie auch einige Autoren vermuten (18-20). Oder es findet eine natürliche Begrenzung der Virus-Ausbreitung statt, wie sie ja ohnehin schon immer jedes Jahr bei den verschiedenen Wellen an Atemwegsviren festzustellen ist (21,22). Auch können bereits teilweise oder nur regional ergriffene offizielle Massnahmen bereits einen Effekt gezeigt haben, bevor der nationale „Lockdown“ kam.
Eine positive Entwicklung bei der Reproduktionszahl und damit der Verbreitung des Virus konnte bereits vor den "Lockdown"-Massnahmen festgestellt werden.
Quelle: https://www.covid19.admin.ch/de/repro/val
Selbst wenn man eine Verlangsamung tatsächlich erreichen konnte, was bedeutet das dann für unser indirektes Hauptziel: Die Verhinderung von Gesamtfällen, schweren Verläufen und Todesfällen? Es wird leider nicht erreicht! Mit oder ohne „Lockdown“ bzw. Verlangsamung der Pandemie infizierten sich und starben ähnlich viele Menschen im Ländervergleich (23-29). Auch zeigte sich kein Zusammenhang zwischen Intensität der offiziellen Massnahmen und dem Verlauf der Infektionen (30-32). Natürlich gibt es Länder wie zum Beispiel Deutschland, das mit sehr strengen Massnahmen relativ gut abschneidet bzgl. Todesfällen und Fallzahlen. Aber dieser Zusammenhang lässt sich eben nicht auf alle Länder übertragen. So zeigt ein Vergleich der US-Staaten oder europäischer Länder, dass die Pandemie unabhängig von den getroffenen Massnahmen mal schwer, mal weniger schwer verläuft (Diagramme siehe unten). Am Ende genügt halt ein einziges negatives Beispiel mit fehlender Korrelation, um die Annahme einer Kausalität zwischen offiziellen Massnahmen und Reduktion von (Todes-)fällen zu widerlegen.
Zusammenfassend: Auch wenn man etwas langsamer ablaufen lässt, ist es in der Summe dennoch genauso heftig. Dies war auch schon die Ansicht einiger Epidemiologen zu Beginn der Krise, wie u.A. bei dem schwedischen Epidemiologe Giesecke (33).
Am Ende dieser Bewertung zum Nutzen der Massnahmen sollte man noch einmal die Grundannahme ihrer Wirksamkeit kritisch betrachten: die a- oder präsymptomatische Übertragung des Virus. Es gibt auch hier Publikationen, die deren Bedeutung kritisch hinterfragen (34-37). Auch wurde die Übertragung durch Aerosole in Innenräumen erst im Verlauf der Pandemie festgestellt. Solche ein Übertragung aufhalten zu wollen ist grundsätzlich schon äussert schwierig. Nur ein sehr früher intensiver und „echter“ Lockdown, verbunden mit einer massiven internationalen Isolation bei einem Inselstaat/Kontinent wie Australien oder Neuseeland kann wahrscheinlich verhindern, dass der Virus überhaupt endemisch wird.
Es ist nun Aufgabe der Wissenschaft auch den Herbst-Frühling 2020/2021 gut zu untersuchen und abzuklären, welche Massnahmen eventuell doch noch eine strenge Korrelation zur Reduktion von Fallzahlen und Todesfällen zeigten. Dies sollte ehrlich und ergebnisoffen erfolgen. Wie bereits erwähnt muss dies begleitet werden von einer öffentlichen Debatte in der Gesellschaft um politisch und demokratisch entscheiden zu können, ob und unter welchen Bedingungen wir so etwas jemals wiederholen wollen. Ich erhoffe mir, dass die Diskussion über den „Lockdown“ der Beginn einer ehrlichen und offenen Auseinandersetzung über die gesamte Pandemie und ihrer Bekämpfung wird. Dabei ist es mehr als überfällig, dass wir die verfestigten und verfeindeten Lager wieder verlassen und uns in guter schweizerischer Tradition einer respektvollen, ruhigen und konstruktiven Debatte stellen.
Die negativen Folgen der Massnahmen sind nämlich bereits evident oder werden uns erst in den kommenden Jahren voll bewusst werden. Sie könnten verheerend sein: Entwicklungsrückschritte (Hirnleistung, sozial) bei Kindern, ökonomische Folgen über Jahrzehnte, psychische, aber auch körperliche Folgen der sozialen Isolation (38), die Zunahme an Gewalt (39). Jetzt schon messbar sind Todesfälle in Folge der Massnahmen und der verbreiteten Panik (40-43). Vor allem die Angst einen Arzt (Praxis, Spital, Notarzt) zu konsultieren war enorm (44) und hatte entsprechende Folgen (40). Eine echte Triage bei der Gesundheitsversorgung hatten wir in der Pandemie v.a. in der Kinder- und Jugendpsychiatrie! Ganz zu schweigen von den unerträglich hohen Opferzahlen der weltweiten Armut und den bereits viel höheren Opferzahlen in ärmeren Ländern durch bekannte Seuchen in Folge der Einschränkungen bei deren Behandlung (45-49).
Abschliessend möchte ich hier den kanadischen Ökonom D.Allen zitieren, der in seinem schlimmsten Szenario einen 282x grösseren Schaden als Nutzen errechnete: „... it is possible that lockdown will go down as one of the greatest peacetime policy failures in Canada's history.“ (50). Man muss eigentlich sagen: weltweit.
Fallzahlen bzw. Todeszahlen pro 100.000 Einwohner
Fallzahlen bzw. Todeszahlen pro 100.000 Einwohner
Infektions- und Todesraten im Ländervergleich. Lockdownstärke gemessen im Oxford Stringency Index (0-100, jeweils in Klammer, Durchschnittswert Okt 20 bis April 21). US Staaten mit ähnlicher Alterstruktur und Bevölkerungsdichte: FL,CA,NY sowie ND,RI und TX,NM.
Quellen:
Quellen
M. S.* ist Facharzt Allgemeine Innere Medizin FMH. Der Name ist der Redaktion bekannt.