Der heute 11-jährige Tim kam als scheinbar kerngesunder Junge zur Welt. Einen Tag nach seiner Geburt untersuchen die Ärzte seine Augen und sehen: Dem Neugeborenen fehlt die Iris. Untersuchungen zeigen, dass Tim am WAGR-Syndrom leidet – einem extrem seltenen Gendefekt, von dem nur 400 Menschen weltweit betroffen sind.
«Alle Routineuntersuchungen waren in Ordnung und wir freuten uns auf ein gesundes Kind», Vera (Mama von Tim)
Eben erst waren Vera, Lukas und ihr Sohn Nils von Basel nach London gezogen. «Ich war damals mit unserem zweiten Sohn Tim schwanger. Es ging mir sehr gut, die Schwangerschaft verlief problemlos und die Routineuntersuchungen waren stets alle in Ordnung», erzählt Vera. Am 27. Januar 2013 kommt der kleine Tim in einem Londoner Krankenhaus zur Welt. «Wir waren überglücklich, Tim schien gesund und munter.» Doch schon einen Tag später wird die Freude getrübt.
Fehlender Pupillenreflex
Der Kinderarzt, der Tim im Spital untersucht, kann keinen Pupillenreflex feststellen- dem Neugeborenen fehlt die Iris. Die Ärzte teilen der Familie mit, dass eine Fehlentwicklung an den Augen häufig als Folge eines Gendefektes auftritt und dass sofort ein Gentest gemacht werden müsste. «Wir fühlten uns wie im falschen Film. Eben noch die grosse Freude über die Ankunft unseres Sohnes und im nächsten Moment die Konfrontation mit einem Gendefekt», so Vera.
Monatelange Warterei
Nun begann die monatelange Warterei auf die Testergebnisse. Vera und ihr Mann beginnen auf eigene Faust im Internet zu recherchieren und stossen auf das WAGR-Syndrom. «Was wir darüber lasen, zog uns den Boden unter den Füssen weg.» Gleichzeitig blieb die Hoffnung, dass der Gentest die Befürchtung nicht bestätigen würde. «Es war eine furchtbare Zeit. Eine Zeit, in der wir oft völlig verzweifelt waren und doch für unsere beiden Kinder da sein mussten. Wir mussten irgendwie funktioniere».
Vier Monate später dann die niederschmetternde Diagnose: Es ist tatsächlich das befürchtete WAGR-Syndrom, Spontanmutation.
Bedeutet: W= Wilmstumor, A=Aniridie (angeborenes Fehlen der Regenbogenhaut des Auges), G=Genitale Fehlbildung, R=Geistige Retardierung. Ein extrem seltener Gendefekt, nur 400 Menschen weltweit sind betroffen. Die Betroffenen leiden an einer Fehlbildung der Augen und sehen sehr schlecht, sind in der allgemeinen Entwicklung verzögert und haben eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, einen bösartigen Nierentumor zu entwickeln.
Vera erzählt, dass ihre Gedanken ununterbrochen um die Frage kreisten, was die Diagnose WAGR-Syndrom für Tim und ihre Familie bedeuten würde. «Wir mussten zuerst mit dieser Diagnose zurechtkommen und uns irgendwie mit dem Gedanken anfreunden, dass unser Leben eine ganz andere Wendung nehmen würde, als wir uns erhofft hatten.» Dazu gehörte auch, dass sie ihren Aufenthalt in London so schnell wie möglich beenden wollten und den Umzug zurück in die Schweiz planten.
Nierenkrebs
Als Tim sieben Monate alt ist, kehrt die Familie in die Schweiz zurück. Tim entwickelt sich gut, nimmt an Gewicht zu und macht Fortschritte. Dann der nächste Schlag: Kurz vor Tims erstem Geburtstag wird eine Veränderung an der Niere festgestellt. Die Onkologen raten zu einer präventiven Chemotherapie, damit kein Wilmstumor entsteht. Nach neun zehrenden Monaten scheint das Schlimmste überstanden zu sein und die Familie schöpft neue Hoffnung. Schon bei der nächsten Kontrolluntersuchung wird diese aber jäh zerstört. Die Ärzte finden auf Tims Niere einen faustgrossen, bösartigen Tumor, der schnellstmöglich operiert werden muss. «Wir fühlten uns ohnmächtig, einfach nur hilflos.» Eine zweite, noch stärkere Chemotherapie wird nun angeordnet.
In dieser Zeit läuft ihr Familienleben auf Sparflamme, sie sind viel mit Tim im Spital und alles dreht sich darum, dass ihr Junge wieder gesund wird.
Tim hat seinen Weg gefunden
Und das wird er - heute, 10 Jahre später, geht es Tim gut; er besucht eine heilpädagogische Schule, hat Hobbys und ist ein fröhlicher Junge. «Wir lieben ihn genau so wie er ist - mit all seinen Besonderheiten», sagt seine Familie.
Hilfe fand Tims Familie auch beim
Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten (KMSK). Dieser vernetzt betroffene
Familien untereinander, leistet finanzielle Hilfestellung und fördert die Wissensvermittlung rund um das Thema «Seltene Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen».
Manuela Stier, Gründerin und Geschäftsführerin des Fördervereins, wurde 2022 mit dem Viktor als herausragendste Persönlichkeit ausgezeichnet.