Zuverlässig werden wir Ärzte im Herbst, Jahr für Jahr, von Politik, Behörden und Krankenkassen implizit, mitunter auch schon mal explizit mit dem Vorwurf eingedeckt, dass wir doch wieder nur Abzocke betrieben hätten und die Prämien wegen unserer schamlosen Bereicherung im «Selbstbedienungsladen» des Gesundheitswesens weiter steigen und steigen.
Dann machen wir doch mal einen Realitätsabgleich mit unserer Praxisbuchhaltung.
Stefan Roth ist Facharzt Kinder- und Jugendmedizin mit Praxis in Köniz-Liebefeld, Co-Präsident VBHK (Verein Berner Haus- und Kinderärzt:innen), Vorstand KIS (Kinderärzte Schweiz).
Wir betreiben eine
grössere Kinderarztpraxis im unmittelbaren Umland der Stadt Bern. Dank unermüdlichem Einsatz in der Nachwuchsrekrutierung und unserem Engagement in der Weiterbildung von Kinderärzten konnten wir junge Kolleginnen und Kollegen gewinnen, die uns helfen, die tägliche Arbeit zu stemmen, die immer mehr wird.
Dazu haben wir viel Geld und noch mehr Zeit investiert in den Ausbau unserer Praxis, so dass wir heute in der Lage sind, einen massgeblichen Anteil an die (noch) funktionierende pädiatrische Grundversorgung in unserem Einzugsgebiet leisten zu können.
«Wir machen nicht mehr Medizin als vorher, wir machen gleich viel Medizin für mehr Menschen.»
Die Zahl der von unserer Praxis betreuten Patienten konnten wir dank mehr Personal und neuen Räumlichkeiten in den letzten zehn Jahren um rund 60 Prozent steigern. Das war, und das ist der Punkt, kein Leistungsausbau, sondern eine dringende Notwendigkeit. Wir haben lediglich dafür gesorgt, dass die offensichtliche Versorgungslücke nicht noch grösser wurde, als sie ohnehin schon ist.
Anders gesagt: Wir machen nicht mehr Medizin als vorher, wir machen gleich viel Medizin für mehr Menschen. Wie die allermeisten Praxen weisen auch wir, und das ist die Realität, weiterhin täglich junge Familien ab, die vergeblich auf der Suche sind nach einem Kinderarzt.
«Die Einführung des Hausarztzuschlages hat keine Auswirkung auf unsere finanzielle Situation gehabt».
Unsere Praxisdaten zeigen zudem: Die Kosten pro betreute Patienten sind im gleichen Zeitraum stabil geblieben. Die Einführung des Hausarztzuschlages hat keine Auswirkung auf unsere finanzielle Situation gehabt, denn der Zuschlag, gedacht zur Förderung der Hausarztmedizin, wurde durch Sparmassnahmen und Kürzungen in anderen Bereichen «wegkorrigiert». Auch die relativen Umsätze pro Patient bei Medikamentenverkauf haben um rund 10 Prozent abgenommen, der Gewinn wegen sinkender Margen noch deutlich stärker.
«Die Personalkosten pro Patient sind in zehn Jahren um gegen 30 Prozent gestiegen.»
Die Miet- und Nebenkosten zeigen in der gleichen Zeit hingegen einen Zuwachs von knapp 20 Prozent pro Patient, die Personalkosten pro Patient eine Steigerung von gegen 30 Prozent.
Dazu kommen laufend wachsende Kosten zum Beispiel für die obligatorische postalische Zustellung von Rechnungskopien, für die Anbindung an (nicht funktionierende) elektronische Patientendossiers, steigende EDV-Kosten, immer mehr bürokratischen Aufwand für Berichte ohne direkten Patientennutzen zuhanden von Versicherungen und Krankenkassen. Die Reihe liesse sich fortsetzen.
«Wir rechnen weiterhin mit einem Tarif ab, der komplett veraltet ist und seit Einführung 2004 keinen Teuerungsausgleich erfahren hat.»
2014 hat das Schweizer Stimmvolk mit fast 90 Prozent «Ja zur Hausarztmedizin» gesagt und damit die Förderung der Hausarztmedizin in der Verfassung verankert. Genauso lange warten wir Grundversorger auf die Umsetzung. Wir rechnen stattdessen weiterhin mit einem Tarif ab, der komplett veraltet ist und seit Einführung 2004 keinen Teuerungsausgleich erfahren hat.
Die Grundlagen für die Berechnung der Tarife gemäss Tarmed gehen auf die Mitte der 1990er Jahre zurück, was bedeutet: Noch heute wird so getan, als würde alles, was wir in der Praxis für unsere Arbeit haben und brauchen, gleich viel kosten wie damals. Und damals kosteten zum Beispiel ein Espresso in der Bar oder eine Stange Bier im Restaurant noch etwa zwei Franken und fünfzig Rappen. Rechnen Sie selbst.
«Es ist dringend nötig, die Diskussion mit etwas mehr Realitätsbezug zu führen.»
So sieht sie aus, unsere Realität. Dass sie wohl auch weiterhin nicht rosiger wird, das ist ja noch das eine. Dass wir Jahr für Jahr dafür noch mit Vorwürfen und mit immer mehr vermeintlichen Massnahmen zur «Kostendämpfung» eingedeckt werden, das ist das andere. Ja, die Arbeit als Grundversorger und vor allem die als Kinder- und Jugendarzt ist spannend und erfüllend, ein Kinderlachen entschädigt für vieles.
Aber es ist dringend nötig, dass die Diskussion mit etwas mehr Realitätsbezug geführt wird. Und die Realität sieht so aus, dass wir ein massives Versorgungsproblem haben. Eines, das noch viel grösser wird und uns noch viel mehr beschäftigen wird als heute das Kostenproblem.