Herr Georgescu, ich bin so vergesslich geworden. Erste Anzeichen von Demenz?
Nicht zwingend, nein.
Wenn die Vergesslichkeit zunimmt, man die Namen alter Bekannter vergisst, ist das noch kein Alarmzeichen?
Das Gehirn verliert mit dem Alter an Kraft, an Dynamik, an Leistungsfähigkeit. Genau wie alle anderen Organe des Körpers auch. Das ist ein normaler Alterungsprozess. Wenn Organe altern, ist man nicht mehr so fit und leistungsfähig wie mit 30.
Demenz kommt aber vor allem im Alter vor.
Demenz ist nicht einfach nur Ausdruck eines Alterungsprozesses. Demenzen sind Krankheiten des Gehirns, die auf klar umschriebenen Ursachen beruhen.
Ob man Fieber hat, kann man messen. Kann man auch Demenz messen?
Ja, sicher. Es gibt mehrere Verfahren, die von Neuropsychologen angewendet werden, um die kognitiven Leistungen wie Aufmerksamkeit, Orientierungsfähigkeit, Abstraktionsvermögen oder Gedächtnisfunktionen zu messen.
Eine Frau, deren Mann an Alzheimer erkrankt ist, sagte mir, man sollte bei zunehmender Vergesslichkeit möglichst früh abklären, ob man an Demenz erkrankt sei.
Unbedingt. Ich würde die Abklärungen möglichst rasch in die Wege leiten. Es ist wichtig zu wissen, wo man steht und welche Behandlungsmöglichkeiten existieren. Ich sehe viele Patienten, die viel zu spät kommen, und bei denen die aktuell verfügbaren Möglichkeiten nicht optimal genutzt wurden.
Die Leute haben Angst vor der Diagnose, weshalb sie die Abklärung hinausschieben.
Das ist falsch. Ich treffe immer wieder auf Personen, die sich grosse Sorgen machen. Sie befürchten, an Demenz erkrankt zu sein, obschon sie es nicht sind. Das macht ihr Leben kaputt. Es belastet sie und ihre Angehörigen sehr.
Auch die Diagnose ist belastend.
Eine Person, die sich einredet, dement zu sein, obschon das nicht stimmt, hat keine hohe Lebensqualität. Oftmals leidet sie aber unter anderen Problemen, die anzugehen wären. Häufig sind es depressive Zustände.
Also müsste man die Depression behandeln.
Wenn jemand beispielswiese seine ganze Aufmerksamkeit nach innen ausrichtet, dann fehlt sie in der Ausrichtung nach aussen. Solche Leute sind so beschäftigt mit ihren Sorgen, Enttäuschungen und Belastungen, dass die Aufmerksamkeit nur nach innen gerichtet ist, statt auch nach aussen. Sie machen sich grosse Sorgen, dass sie dement werden. Dabei sind ihre Probleme auf ihre psychische Situation zurückzuführen.
Sie meinen die Pseudo-Demenz?
Ja, viele Leute glauben, sie hätten Alzheimer-Demenz, obschon das nicht stimmt. Ihnen fehlt dann die richtige Therapie. Weil sie sich nicht umfassend abklären konnten oder liessen, kommen sie aus dem Teufelskreis nicht mehr heraus. Das Wichtigste bei der Demenz ist, so rasch wie nur möglich eine klare Diagnose zu haben, um für die Behandlung keine Zeit zu verlieren.
Die Frau, von der ich vorhin sprach, sagte auch, Betroffene sollten über ihre Krankheit offen reden.
Das finde ich auch. Es ist nicht gut, wenn solche Dinge versteckt werden. Das fördert die Stigmatisierung. Jeder Mensch kann erkranken, sei es an Alzheimer oder an einer anderen Krankheit. Ich finde, es ist im heutigen Zeitalter unerträglich, sich wegen einer Krankheit zu schämen.
Sie sagten einmal, über Alzheimer wisse man heute viel mehr als vor zehn Jahren. Was konkret?
Man weiss heute viel mehr über die Mechanismen, die diese Krankheit auslösen. Bei der Bildung sogenannter Tau-Proteinfibrillen sowie der Entstehung von amyloiden Plaques sind neben genetischen auch immunologische und vaskuläre Faktoren wichtig. Heute wissen wir, dass man mit bestimmten Massnahmen das Erkrankungsrisiko in der Bevölkerung senken kann.
Dan Georgescu,
Jahrgang 1965, wohnhaft in Moosseedorf im Kanton Bern, ist seit 2015 Klinikleiter und Chefarzt der Klinik für Konsiliar-, Alters- und Neuropsychiatrie bei den Psychiatrischen Diensten Aargau AG (PDAG). Angefangen bei den PDAG hat der Sohn einer Ärztin und eines Professors aus Bukarest im Jahr 2000, zuerst als Oberarzt, dann als Leitender Arzt des Departements Gerontopsychiatrie. Georgescu hat nicht nur Medizin studiert, sondern auch Philosophie. Seine Facharztweiterbildung absolvierte er mehrheitlich an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Bern. Er ist Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie sowie der Swiss Memory Clinics.
Es ist offenbar so, dass das Risiko, an Demenz zu erkranken, in den letzten Jahren abgenommen hat.
Das stimmt. 2013 sind zwei Publikationen aus England und aus Dänemark erschienen. Man hatte festgestellt, dass die Anzahl der Demenzkranken angesichts der demografischen Entwicklung zwar steigt. Aber dass innerhalb einer Altersgruppe der Anteil derer, die an Demenz erkranken, im Sinken begriffen ist.
Um wie viel?
Um rund 25 Prozent innerhalb der letzten 20 bis 30 Jahre.
Was sind die Gründe?
Die in den genannten Studien untersuchten Personen gehörten zur ersten Generation, die sich periodisch untersuchen lässt. Bei zu hohem Blutdruck oder zu hohen Cholesterinwerten haben sie dann Massnahmen ergriffen. Herz-Kreislauf-Risiko-Faktoren haben einen enormen Einfluss auf die Gesundheit des Gehirns.
Also leben wir gesünder als unsere Vorfahren.
Ja, die Menschen der westlichen Welt haben ihren Lebensstil geändert. Was gut ist fürs Herz, ist auch gut für das Hirn. Demenzerkrankungen wie die Alzheimer-Demenz und die vaskuläre Demenz haben sehr viel zu tun mit dem Lebensstil und den Lebensgewohnheiten.
Sie erklären, warum eine Früherkennung so wichtig sei. Der Erfolg der medikamentösen Behandlung scheint jedoch überschaubar zu sein.
Es geht in einem ersten Schritt darum, die Risikofaktoren ausfindig zu machen und dagegen vorzugehen. Wir wissen, dass hohes Cholesterin, hoher Blutdruck, Übergewicht, Rauchen, Stress, mangelnde Bewegung das Demenzrisiko erhöhen können.
Korrigieren Sie mich: Ist die Krankheit diagnostiziert, bleibt die medikamentöse Behandlung bescheiden.
Es gibt sehr wohl Medikamente, die den Krankheitsprozess verlangsamen. Leider muss ich aber feststellen, dass viele Patienten nicht richtig diagnostiziert worden sind, so dass die Medikamente nicht viel bewirken können. Es genügt nicht, kognitive Tests zu machen und Antidementiva zu verabreichen. Es braucht umfassende Untersuchungen, die neben den demenzspezifischen Aspekten auch andere biomedizinische, psychologische und soziale Faktoren umfassen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Ein Faktor, der sehr leicht zu beeinflussen wäre, ist der Mangel an Vitamin B12. Wenn man einem Alzheimer-Patienten ein geeignetes Medikament verschreibt, aber nicht erkennt, dass er einen Mangel an Vitamin B12 hat, so wird das Medikament unter Umständen nicht das gewünschte Ergebnis bringen. Medikamente sind Teil eines Gesamtkonzeptes, welches mehrere Dimensionen umfasst. Und darum, ich wiederhole mich, genügt es nicht, Partialuntersuchungen zu machen.
An welche Medikamente denken Sie?
Die eine Gruppe nennt man Acetylcholinesterase-Hemmer. Sie haben zwar keinen grossen Einfluss auf das Absterben der Nervenzellen, aber sie können durchaus helfen, dass die Personen besser denken, sich besser konzentrieren, besser ihre Gedächtnisinhalte abrufen können. Sie unterstützen die kognitive Funktion recht deutlich.
Und das andere von Ihnen erwähnte Antidementivum?
Memantin hat neben der Verbesserung der kognitiven Leistung vermutlich auch einen gewissen neuroprotektiven Effekt. Auch deshalb ist es so wichtig, sehr schnell mit der Behandlung zu beginnen.
Sie sagten einmal, Demenz sei eine Entzündungskrankheit.
Ja, das weiss man schon lange. Wir wissen, dass Substanzen, die Entzündungen hemmen, auch bei der Prävention von Alzheimer wirken können. Menschen, die regelmässig entzündungshemmende Substanzen einnehmen, haben eine tiefere Alzheimer-Mortalität. Dies wurde von mehreren Studien belegt.
Soll ich Aspirin oder Ibuprofen schlucken?
Nein. Dies kann ich nicht empfehlen, obwohl mehrere epidemiologische Studien auf eine geringere Inzidenz der Alzheimer-Erkrankung bei Menschen hinweisen, die aus anderen Gründen sogenannte nicht steroidale Antirheumatika eingenommen hatten. Ein Problem mit den Studien, welche die Einnahme von entzündungshemmenden Antirheumatika vorsahen, wie zum Beispiel Adapt oder Intrepad, waren die Nebenwirkungen. Dennoch scheint mir dieser Ansatz noch nicht vom Tisch, denn meines Erachtens war das Studiendesign nicht gut gewählt.
Wir konnten kürzlich lesen, dass ein Molekül zur Bekämpfung von Alzheimer entdeckt wurde. Mithilfe des Antikörpers A13 lasse sich die Ausbreitung der Nervenkrankheit im Frühstadium verhindern.
Es ist zu früh, um diese Entdeckung zu bewerten. Es gibt fast jeden Monat solche Meldungen, dennoch haben wir seit 20 bis 30 Jahren keine neuen Medikamente. Man muss aufpassen. Das Wissenschaftsmarketing spielt eine immer grössere Rolle im Wettbewerb um Aufträge und Ressourcen wie Gelder oder Forschungspersonal.
Gilt das auch für die Firma Biogen? Sie soll als erster Biotech-Unternehmen die Zulassung für einen Alzheimer-Wirkstoff beantragt haben.
Ich masse mir kein Urteil an. Die kürzlich präsentierten Studiendaten über den Amyloid-Antikörper Aducanumab waren interessant, aber nicht ganz überzeugend. Persönlich bin ich schon lange der Meinung, dass die Fokussierung auf das Eiweissbruchstück Amyloid der Komplexität der Alzheimer-Krankheit nicht gerecht wird. Wichtig sind auch die Ansätze, welche auf die pathologische Aggregation des Tau-Proteins fokussieren, und die neuroimmunologischen Ansätze. Und vor allem die Kombination dieser Mechanismen.
Verschiedene Arten von Demenz
Morbus Alzheimer ist die häufigste Form der Demenzerkrankungen. Um die 60 Prozent der Demenzen fallen in diese Kategorie. Bei dieser neurodegenerativen Krankheit stehen am Anfang die Gedächtnisstörungen im Vordergrund. In späteren Stadien sind auch andere Hirnfunktionen betroffen und auch die Verhaltensstörungen ausgeprägter.
Die zweithäufigste Form von Demenz ist die vaskuläre Demenz. Sie entsteht aufgrund von Durchblutungsstörungen im Gehirn. Schlaganfallähnliche Symptome und Verschlechterung der Gehirnleistung, der Impulskontrolle und der Stimmungslage sind die Folge.
Bei der Parkinson- sowie der Lewy-Körper-Demenz sind punkto Konzentrationsvermögen, Aufmerksamkeit und Wachheit grosse Schwankungen zu beobachten. Erkrankte leiden zudem an visuellen Halluzinationen und zeigen starke Sturzneigung.
Die frontotemporale Demenz ist Folge eines Nervenzelluntergangs im Stirnlappen. Sie betrifft oft Personen unter 65 Jahren und verursacht insbesondere Veränderungen der Persönlichkeit, des Verhaltens und der Sprache.