Herr Luchsinger, mit dem Tarmed-Eingriff des Bundesrates werden Hausärzte bessergestellt. Und doch kritisierten Sie an der Medienkonferenz der FMH den Eingriff. Fühlten Sie sich wohl dabei?Ja, ich fühlte mich wohl dabei. Es gibt zwei Seiten. Auf der einen Seite werden Hausärzte bessergestellt. Aber der Tarmedeingriff von Herrn Berset enthält auch Punkte, die für uns von grossem Nachteil sind und unsere Arbeit behindern; Punkte, die der Bundesrat von den Krankenversicherern tel quel übernommen hat.
Sie denken an die Zeitlimiten?Das Bundesamt für Gesundheit sagt uns, dass wir im Schnitt die uns zur Verfügung gestellte Zeit gar nicht bräuchten. Doch wir haben keine Durchschnittspatienten. Wir haben Patienten, die weniger Zeit benötigen, und wir haben Patienten, die mehr Zeit beanspruchen. Wenn ich die Zeit nicht mehr verrechnen kann, die ich für Gespräche mit der Spitex, mit Arbeitgebern oder mit der Schule benötige, so verzichte ich halt auf diese Abklärungen. Das ist ein Qualitätsverlust in der Betreuung des Patienten.
Ich kenne eine Physiotherapeutin: Wenn sie dem zuweisenden Arzt einen Bericht schreibt, kann sie das auch nicht in Rechnung stellen. Sie macht es trotzdem.Ich sage nicht, dass wir unsere Arbeit nicht mehr machen werden. Aber einen Bericht schreiben und ihn nicht abrechnen können, oder aber eine stündige Sitzung unbezahlt abhalten – das ist schon ein Unterschied. Übrigens: Dass die Physiotherapeutinnen einen eigentlich unannehmbaren Tarif haben, ist uns sehr wohl bekannt.
Philippe Luchsinger
Präsident mfe Haus- und Kinderärzte SchweizPhilippe Luchsinger ist seit Januar 2017 Präsident der Haus- und Kinderärzte Schweiz mfe. Hauptberuflich arbeitet er seit 1988 Hausarzt in Affoltern am Albis. Er studierte Medizin in Zürich und absolvierte von 1982 bis 1988 seine Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Luchsinger war schon seit 2012 Präsident von Hausärzte Zürich und ist seit mehreren Jahren in der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich, wo er auch als Ombudsmann amtet.
Aber unter dem Strich werden die Hausärzte dank Alain Berset bessergestellt.Das hoffen wir, aber wir wissen es noch nicht. Wir wissen, dass wir für unsere Leistungen mehr erhalten. Aber wir wissen noch nicht, wie stark die Einschränkungen im Umgang mit dem Patienten zu Buche schlagen.
Gesundheitsminister Alain Berset hat im Wesentlichen die Forderungen von Curafutura übernommen. Und doch erhalten Hausärzte mehr für ihre Leistung. Werden die Hausärzte von Curafutura besser vertreten als von der FMH?Als 2004 der Tarmed eingeführt wurde, hiess es von Seiten der Versicherer, des Bundes und des Preisüberwachers, die durch den neuen Tarif verursachten Einbussen würden ausgeglichen. Doch nichts ist passiert. Dies holte dann Bundesrat Berset in seinem ersten Eingriff im 2014 nach.
Das heisst doch, dass die FMH die Interessen der Hausärzte mangelhaft vertritt.Nein, das hat mit dem Konstrukt von Tarifsuisse zu tun, die den Tarmed verwaltet. Wann immer die FMH im Interesse der Hausärzte Verbesserungen vorschlug, legte Santésuisse das Veto ein.
Und doch hat man den Eindruck, dass die Hausärzte ausserhalb der FMH mehr Power hätten, weil sie ihre Anliegen durchboxen könnten, ohne auf die Befindlichkeit der gut bezahlten Spezialisten Rücksicht nehmen zu müssen. Da bin ich mir nicht so sicher, ob wir als kleine Gruppe mit 5’000 Mitgliedern die gleiche Macht hätten wie die FMH mit 36'000 Mitgliedern.
«Es geht nicht an, dass die verschiedenen Ärzteschaften für identische Arbeiten unterschiedlich vergütet werden»
Der pensionierte Hausarzt Armin Buchenel sagte uns im Interview, die Divergenzen innerhalb der FMH seien enorm. Das vermindere die Schlagkraft. Die Apotheker würden es besser machen.Die Interessen sind in der Tat sehr unterschiedlich. Und das ist auch der Grund, weshalb wir Hausärzte der Meinung sind, dass bei der ersten Tarmed-Revision die Gewichtung zu unserem Nachteil vorgenommen wurde. Und dennoch finde ich, dass die Ärzteschaft als Einheit auftreten und die Tarife für alle aushandeln muss.
Warum?Weil wir in verschiedenen Sparten arbeiten. Der Hausarzt verrichtet zum Teil die gleichen Arbeiten wie Spezialisten, beispielsweise Röntgenaufnahmen. Da geht es nicht an, dass die verschiedenen Ärzteschaften für identische Arbeiten unterschiedlich hoch vergütet werden.
In der Urabstimmung zur Tarmed-Revision waren die Hausärzte mehrheitlich dafür, wurden aber von der Übermacht der Spezialisten überstimmt. Oder?Es gab in der Urabstimmung eine unheilige Allianz. Es gab im Nein-Lager zwei grosse Gruppen, welche der Meinung sind, sie müssten zu viele Nachteile in Kauf nehmen. Zum einen waren das die operierenden Ärzte –zum andern die Hausärzte.
Warum waren denn die Hausärzte dagegen?Unsere sehr differenzierten Berechnungen hatten ergeben, dass die von uns erhofften Verbesserungen inklusive Hausarztzuschlag – der für uns selbstverständlich dazugehört – nicht erreicht werden, und dass wir sogar Einbussen zu befürchten hätten, je nach Berechnung bis 5 Prozent. Da hätten wir unseren Mitgliedern einen schlechten Dienst erwiesen, ihnen eine Annahme zu empfehlen.
«Eine gute Infrastruktur nützt nichts, wenn man die Leute dafür nicht hat»
Früher hiess es, ein Hausarzt verdiene im Schnitt brutto 195'000 Franken. Reicht das nicht?
Ich weiss nicht, ob diese Zahl noch stimmt. Die Wettbewerbskommission hat ja der Ärzteschaft untersagt, diese Zahlen zu veröffentlichen.
Es dürfte kaum weniger sein als früher.
Wir wissen, dass die Einkommen sehr unterschiedlich sind; sie variieren auch von Kanton zu Kanton.
Gerade für die Tarifverhandlungen wäre es doch von Vorteil, wenn endlich Lohntransparenz herrschte.
Die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften hat in einer Studie das Referenzeinkommen der Ärzte ermittelt, das als Grundlage für die Tarifverhandlungen gelten soll. Es ist auf 247'000 Franken festgelegt worden.
«Das Problem ist, dass ein privater Investor das Ärztezentrum schliesst, wenn der Umsatz nicht stimmt»
Die klassische Arztpraxis gilt als Auslaufmodell. Die Zukunft liegt in den Ärztezentren. Dabei haben im Kanton Aargau innerhalb eines halben Jahres zwei solcher Zentren dichtgemacht. Was sagen Sie dazu?
Eine gut ausgebaute Infrastruktur nützt nichts, wenn man die Leute nicht findet, die dort arbeiten wollen. Wir haben in der Schweiz nicht genug ausgebildete Hausärzte.
Ist das der einzige Grund?
Nein, man muss auch die Hintergründe kennen. In Sins hatte ein innovativer Hausarzt das Zentrum aufgebaut und es dem Spital verkauft. Doch dann bekam das Spital Probleme mit dem eigenen Personal, worauf es das Ärztezentrum einem Investor verkaufte. Das Problem ist nun, dass ein privater Investor das Ärztezentrum schliesst, wenn der Umsatz nicht stimmt.
Was ist die Alternative?
Wenn das Zentrum den beteiligten Hausärzten gehört, die das System gemeinsam aufgebaut haben, dann sind die Erfolgsaussichten grösser. Sie sind dann eher bereit, Durststrecken zu überwinden.
Hat nun die Hausärzte-Initiative beziehungsweise der Gegenvorschlag, über den wir vor drei Jahren abgestimmt haben, etwas bewirkt?
Sehr viel sogar. Der erste Tarifeingriff im Jahr 2014 war eine Antwort auf diese Initiative. Die Hausarztmedizin hat heute eine ganz andere Stellung als vor zehn Jahren. Wir verzeichnen wieder mehr Studierende, die sich für die Hausarztmedizin entscheiden.
Das Beispiel Muri zeigt wohl, dass die Wirkung auf sich warten lässt. Nein, das Beispiel zeigt vielmehr, dass gewisse Konstrukte bei uns nicht funktionieren.