Wir präsentieren an dieser Stelle ja gern provozierende und anregende Ideen aus dem Gesundheitsbereich – und solch ein Beitrag wurde nun in der Juli-Ausgabe von «PLOS Medicine» veröffentlicht. Er besagt: Der allergrösste Teil der Forschung in der Medizin ist zwecklos.
Milliardensummen würden verschleudert, abertausende Arbeitsstunden vergeudet für Erkenntnisse, welche die Entscheidungen in der alltäglichen Medizin nicht im Geringsten verändern. «Reform and improvement are overdue», so ein Fazit des Textes: Höchste Zeit für eine Reform.
Autor der Provokation ist
John P. A. Ioannidis, Professor für Medizin und Medizinforschung an der Stanford University. Er beginnt mit einem Satz, welcher das Problem rasch veranschaulicht: «Praktizierende Ärzte und andere Gesundheits-Professionals sind es sich gewohnt, dass ihnen das, was in den medizinischen Fachjournalen steht, kaum je etwas nützt.»
Untermauert wird dieser Eindruck durch die Erkenntnis, dass etwa 85 Prozent der klinischen Forschungen ohnehin keine oder falsche Ergebnisse liefern. Und selbst bei den übrigen Studien – so der jetzt von Ioannidis aufgespiesste Punkt – ist nur ein Bruchteil nützlich. Und zwar nützlich in dem Sinn, dass sie solide neue Erkenntnisse zu einem nennenswerten gesundheitlichen Problem liefern und/oder dazu beitragen, neue Denk- und Handlungsweisen in der Medizin einzuführen.
Testfrage: Würden Sie es den Probanden verraten?
«Nützlich»: Es ist dieser Begriff, mit dem der Stanford-Professor ein heikles Fass öffnet. Implizit fordert Ioannidis nämlich, dass bereits die Eingangsfrage eine gewisse Relevanz verspricht. Zwar spricht er sich klar dafür aus, dass die klinische Forschung auch seltene Krankheiten ins Visier nimmt; die Kritik richtet sich aber gegen das «disease mongering», also die Pathologisierung gewisser Zustände, die Dramatisierung von Krankheiten im Eigeninteresse von Wissenschaft und Pharma.
Und insgesamt richtet sich die Kritik stark gegen den Missbrauch von klinischen Studien zum Zweck der Förderung wissenschaftlicher Karrieren.
Ioannidis formuliert deshalb ganz konkrete Anforderungen, die an alle klinischen Studien gestellt werden müssten. Zum Beispiel sollten sie so ausgestaltet sein, dass nicht nur die Entscheidungsträger sehen, dass die möglichen Risiken und Nachteile am Ende auch einen entsprechenden medizinischen Nutzen haben könnten – sondern dass dies auch die Patienten und Testpersonen nachvollziehen können.
Wo bleibt der Pragmatismus?
Denn vielen Beteiligten solcher Studien ist es ja ein Anliegen, dass sie einen Beitrag leisten zum medizinischen Fortschritt – während die Studienleiter selber wissen, in welch extrem begrenzten Ausmass dies oft der Fall ist.
Im Einklang damit führt Ioannidis weitere Begriffe in die Debatte ein, zum Beispiel: Pragmatismus. Was zum Beispiel bedeutet, dass die Schlussfolgerungen einer Studie im realen Leben anwendbar sein sollten. Und: Patientenzentrierung – das Prinzip, dass die Anliegen der Patienten stets im Fokus stehen sollten, wenn Geld für die medizinische Forschung ausgegeben wird.
Qualität vor Quantität
Unausgesprochen klingt hier der Vorwurf an, dass Quantität für die medizinische «Research Community» wichtiger sei als Qualität – so dass man mit Studien zwar die Karriere befördern kann, aber den Patienten denkbar wenig hilft.
Wie zu erwarten war, ernteten die steilen Thesen aus Stanford prompt Widerspruch. Elizabeth Loder, Forschungschefin beim
BMJ,
deutet zum Beispiel an, dass ziel- und wertfreie Grundlagenforschung nach Ioannidis’ Regeln abgewertet würde. «Es ist nicht immer möglich, zum Zeitpunkt einer Foschungsarbeit vollständig zu entscheiden, wie nützlich diese sein wird. Manchmal wird dies erst später ersichtlich.» Zudem könnten auch Ergebnisse wertvoll sein, die zwar keine neue Denk- und Handlungsweisen einführen, aber ältere Weisheiten bestätigen.
Es beginnt bei der Ausbildung
Dennoch: Ioannidis ist optimistisch. Die Einsicht der grassierenden Nutzlosigkeit sei ja sehr nützlich. «Es hat mich lange frustriert zu sehen, wie viel klinische Forschung am Ende keinen Zweck hat und den Menschen nicht wirklich hilft», sagte der dem kanadischen Ärztejournal
CMAJ. «Aber ich bin optimistisch, dass wir das verbessern können.»
Seine Analyse besagt nämlich, dass man das Problem von Grund auf angehen kann. So schlägt der Medizin-Professor vor, dass man schon in der Ausbildung darauf achtet, dass die künftigen Ärzte in der Forschungsmethodik und der evidenzbasierten Medizin trainiert werden. Und er hofft auf den Druck beziehungsweise Einfluss von externen Gruppen. Eine Idee, die hier etwas bewirken könnte: die Einführung eines «Journal Clinicial Usefulness Factor» – eine Beurteilung der Nützlichkeits-Aspekte in einem Rating. Was sowohl die einzelnen Journals als auch deren Autoren in eine gewisse Richtung motivieren könnte.
Ein Interview mit John P. A. Ioannidis: Wie man in der Medizinforschung zu mehr Wahrheit kommt
Allerhand Aufsehen und eine eifrige Debatte erregte Ioannidis bereits vor zehn Jahren. Damals publizierte er
«Why Most Published Research Findings Are False», eine statistisch untermauerte Studie, welche den Studien viele Qualitätsmängel vorhielt: Zu kleine Studienpopulationen, statistische Schwächen, Karriere- und Geld-Interessen führten oft zu einem
Bias (oder aber sie dienen ohnehin nur dazu, einen bestehenden Bias zu bestätigen), so Ioannidis.
«Bei den meisten Studien-Designs und -Anlagen ist es wahrscheinlicher, dass das Ergebnis falsch denn wahr ist», so einer der provozierenden Sätze damals.