Pflegeinitiative: Angriff auf die Vertragsfreiheit vorerst vereitelt

Der Nationalrat debattierte am Mittwoch über den Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative. Knackpunkt ist die Frage, wie weit Pflegefachpersonen selber ohne Anordnung eines Arztes mit der Krankenkasse abrechnen können.

, 15. September 2020 um 13:25
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Zur Erinnerung: Der Nationalrat hat sich in der Wintersession 2019 dafür ausgesprochen, dass Pflegefachpersonen ihre Leistung eigenständig erbringen und auch eigenständig abrechnen dürfen. Dies ist ein zentraler Punkt der Initiative «Für eine starke Pflege».
Doch der Ständerat hat in der zurückliegenden Sommersession diese Kompetenzen eingeschränkt. Er will sie an die Bedingung knüpfen, dass zwischen der Pflegefachperson mit der Krankenkasse eine vertragliche Vereinbarung besteht.

Hinter allem steht Curafutura

Die St. Galler SP-Nationalrätin Barbara Gysi erinnert in der Ratsdebatte vom Mittwoch daran, dass dieser Angriff auf die Vertragsfreiheit aus der Feder von Curafutura stammt, deren Präsident, der Urner FDP Ständerat Josef Dittli, in der ständerätlichen Gesundheitskommission (SGK-S) sitzt.
Mit 114 zu 79 Stimmen hält der Nationalrat dank der Linken und den Mitteparteien an seiner Version fest. Sollte auch der Ständerat an seiner eigenen Variante festhalten, könnte der Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative abstürzen.
Ausgewählte Voten der Ratsmitglieder:
Regine Sauter (FDP, ZH): «Wir schlagen vor, dass Pflegefachpersonen, die solche Leistungen selbstständig erbringen möchten, einen entsprechenden Vertrag mit einer Versicherung abschliessen sollen, in welchem die Eckpunkte festgelegt werden.»
Manuela Weichelt-Picard (Grüne, ZG): «Die Grünen wehren sich gegen eine Aufhebung des Vertragszwangs durch die Hintertür. 46 Prozent der Pflegefachpersonen steigen während des Erwerbslebens aus dem Beruf aus.»
Verena Herzog (SVP, TG): «Wer einmal im Spital gelegen ist, weiss, wie wichtig für das Wohlbefinden und die schnelle Genesung besonders auch die Pflegenden sind. Aber ich möchte einfach nochmals daran erinnern: Von der eigenständigen Abrechnung könnte ja nur das oberste Drittel des Personals profitieren. Das wären diejenigen, die jetzt eher am Bürotisch arbeiten, beaufsichtigen und organisieren.»
Barbara Gysi (SP, SG): «Um welche Leistungen geht es im eigenständigen Bereich überhaupt? Es geht zum Beispiel darum, einer Spitex-Klientin beim Duschen oder einem Pflegeheimbewohner beim Anziehen zu helfen. Das soll eigenverantwortlich angeordnet und abgerechnet werden.»
Lorenz Hess (BDP, BE): «Es ist unbestritten, dass gute Pflegeleistungen, die schnell und effizient erfolgen, dafür sorgen, dass es weniger stationäre Behandlungen gibt. Also ist es unter dem Strich dann zumindest kostenmässig doch hochinteressant, wenn die Pflege gestärkt wird - um das ein bisschen salopp auszudrücken.»
Manuela Weichelt-Picard (Grüne, ZG): «Es kann nicht sein, dass im Jahre 2020 die Pflege im KVG immer noch als medizinischer Hilfsberuf eingestuft wird. Wir sind nicht mehr im Mittelalter. (…) Es kann doch nicht sein, dass es eine ärztliche Anordnung braucht, um jemandem zuhause Stützstrümpfe anziehen zu dürfen.»
Lorenz Hess (BDP, BE): «Was die Tatsache anbelangt, dass die Leistungen eben nur auf Anordnung oder Auftrag eines Arztes, einer Ärztin ausgeführt werden können, sieht man, wenn man das in der Praxis anschaut, dass das schon heute häufig eher nur eine Farce ist, indem nachträglich eine klar qualifizierte und quantifizierte Leistung, die völlig unbestritten ist, einfach erbracht wird.»
Barbara Gysi (SP, SG): «Welche Pflegeleistungen ein Mensch braucht, kann eben dann in diesen Fällen eine Pflegefachfrau, die die Patientin täglich betreut, besser beurteilen, als die Hausärztin in der Praxis.»
Verena Herzog (SVP, TG): «Je mehr Leistungserbringer vorhanden sind, je mehr Leute abrechnen können, umso höher wird die Gesamtabrechnung.»
Melanie Mettler (GLP, BE): «Es handelt sich eigentlich  nicht um eine Diskussion über Kosten, sondern um einen Ausdruck der Haltung, dass nur Ärzte - ich brauche bewusst die männliche Form - genug qualifiziert seien, die Notwendigkeit medizinischer Dienstleistungen zu erkennen.»
Barbara Gysi (SP, SG): «Herr Bundesrat Berset, warum vergleichen Sie immer mit den Ärzten, wenn Sie von Mengenausweitung sprechen? Falls die Pflege eigenständig abrechnen kann, kann sie Kosten einsparen.»
Bundesrat Alain Berset (SP, FR): «Wir stellen fest, Frau Gysi, jedes Mal, wenn wir die Zahl der Leistungserbringer erhöht haben, die direkt abrechnen können, war ein Kostenanstieg zu beobachten.»

Santésuisse hat keine Freude

«Die Pflege ist für ein funktionierendes Gesundheitswesen zentral, das hat auch die Coronakrise gezeigt», schreibt der Krankenkassenverband Santésuisse in einer Mitteilung.  Doch mit seinen Entscheiden beim Gegenentwurf zur Pflegeinitiative öffne der Nationalrat jetzt aber Tür und Tor für unkontrollierte Mengenausweitungen, ohne damit die künftigen Herausforderung in der Pflege anzupacken. Dies sei eine teure Sonderlösung gegen die Interessen der Prämienzahlenden, so Santésuisse. «Jetzt ist der Ständerat gefragt, im Interesse der Prämienzahler zu entscheiden.»
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