«Die Pflegenden müssen fühlen und sehen, dass wir auf sie hören»

«Wir haben den Pflegenden zugesichert, nicht mehr über ihre Köpfe hinweg zu entscheiden.» Das sagt Stephanie Hackethal, CEO im Kantonsspital Glarus.

, 11. Mai 2023 um 17:54
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CEO Stephanie Hackethal in ihrem Büro im Kantonsspital Glarus. | cch
Frau Hackethal, das Kantonsspital Glarus erhöht die Lohnsumme bei der Pflege um 14 Prozent. Dabei heisst es doch jeweils, nicht die Entlöhnung sei das Problem, sondern die Arbeitsbedingungen. Wir sind erstmal sehr froh, dass der Verwaltungsrat für zwei Jahre negative Jahresergebnisse genehmigt hat. Das ist aussergewöhnlich. Es ist völlig klar, dass wir gegen den Pflegefachmangel schnell etwas unternehmen mussten. Natürlich ist der Lohn nicht alles, aber er ist trotzdem wichtig. Und die Anstellungsbedingungen sind ein wesentlicher Faktor, dass sich die Mitarbeitenden wohl fühlen, dass sie zufrieden sind. Da haben wir viel gemacht.
Was konkret? Wir haben in erster Linie viele Gespräche mit den Pflegenden geführt; wir haben zudem unterschiedliche Workshops durchgeführt, mit Unterstützung der Personalabteilung. Und ich bin auch bei vielen Workshops mit den Pflegenden dabei gewesen. Wir haben Verbesserungsvorschläge zur Kommunikation, Personaleinsatzplanung, Flexibilität, Mitbestimmung, zu pflegefremden Tätigkeiten, Löhnen, Zulagen entgegengenommen. Danach haben wir ein systematisches Massnahmenpaket und das «KSGL Entwicklungsprogramm Pflege 2025» mit sechs Themenfeldern erarbeitet. Zudem haben Verwaltungsrat und Geschäftsleitung eine neue Strategie entwickelt.
Haben Sie ein Beispiel aus der Strategie? Ein zentrales Thema lautet «Mitarbeitende im Fokus: Wir beziehen Mitarbeitende aktiv in Entscheidungsprozesse mit ein». Auch der Verwaltungsrat hat mit den Pflegenden gesprochen. Wir versuchen, sie überall bestmöglich einzubeziehen. Sie müssen fühlen und sehen, dass wir auf sie hören und ihre Meinung wissen wollen. Wir haben ihnen zugesichert, nicht mehr über ihre Köpfe hinweg zu entscheiden. Das war in der Vergangenheit teilweise anders.
Haben Sie ein Beispiel einer konkreten Massnahme? Das Einspringen auf derselben Station, oder ein Einspringen auf einer anderen Station ist bei uns im Spital ein grosses Thema. Wir haben zwei Bettenhäuser, ein Chirurgiebettenhaus, ein Medizinbettenhaus. Wenn die Chirurgie nicht voll belegt ist und in der Medizin ein Engpass besteht, sollen Pflegefachkräfte in der Medizin aushelfen können. Dazu braucht es aber klare Regeln. Was gibt es da zu regeln? Wenn man sagt, ich brauche Dich als chirurgische Fachperson ausnahmsweise auf der Medizin, dann gibt es eine Extrazulage dafür. All das ist in unserem Modell «Einspringen» definiert.
Wer einspringt, kriegt Geld dafür? Ja, aber es muss klar definiert sein, wie das Einspringen zu verstehen ist. Und es ist nicht zu verwechseln mit Diensttausch. Wenn eine Person in zwei Monaten wegen einer privaten Veranstaltung am Samstag statt am Sonntag arbeiten möchte und mit einer anderen Person den Dienst tauscht, so gilt das nicht als Einspringen.
Wenn aber eine Person krankheitshalber ausfällt, fragt die Abteilungsleiterin nach, wer allenfalls einspringen könnte. Dafür gibts einen Zuschuss. Und wenn man bereits am Folgetag einspringen muss, gibts einen höheren Zuschuss. All das ist klar reglementiert.
Das gilt nur für Pflegende, oder? Wir sind jetzt in der Pilotphase. Unser Ziel ist es, ab nächstem Jahr das Konzept im ganzen Haus einzuführen, auch in der Hauswirtschaft oder in der Finanzbuchhaltung.
Was halten Sie vom dreistufigen Modell des Spitals Bülach? Auch dort werden Flexibilität und Spontanität mit Zulagen belohnt. Das hört sich sehr spannend und innovativ an. Weil dieses erst seit 1. April in Umsetzung ist, liegen noch keine Erfahrungswerte vor. Wir testen jetzt mal unser Modell, das wir bewusst zusammen mit den Pflegenden erarbeitet haben. Es ist das Ergebnis unserer Workshops.
Von welchen Beträgen reden wir da? Eine eingeteilte Fachperson ruft morgens an, sie sei krank. Nun sucht die Abteilungsleiterin krampfhaft bei den Freihabenden, ob sie einspringen könnten. Was kriegt die Freihabende dafür? Zwischen 80 bis 130 Franken je Einspringen.
Dank all der Massnahmen ist keine Fachperson mehr abgesprungen? Keine leider nicht. Aber das gehört dazu. Wir haben eine normale Fluktuation.
Wie verhält es sich mit dem Personalnotstand in der Pflege? Wir hatten in der Vergangenheit bis zum Frühjahr im Vergleich zu anderen Spitälern einen unterdurchschnittlichen Mangel an Personal. Wir haben die Betten immer betreiben können. Wir sperrten ausgewählte Betten nur dann, wenn wir zu wenig Patienten hatten.
Und die verlorenen Stellen haben Sie wieder besetzen können? Noch nicht alle – trotz der umfassenden Personalentwicklungsmassnahmen und Salärerhöhungen. Wir befinden uns noch in einer Übergangsphase. Einige Lohnmassnahmen beginnen erst zu greifen. Das muss sich zuerst herumsprechen. Zudem gibt es Kündigungsfristen. Aber wir sind überzeugt, dass sich das schnell relativiert, weil wir sehr viel unternehmen mit den Mitarbeitenden, um unser Spital langfristig als attraktiven und wichtigen Arbeitsort in unserem Kanton zu verankern. Die Identifikation mit dem Spital ist im Glarnerland sehr hoch.
Haben Sie einen hohen Anteil einheimischer Fachkräfte, dass die Identifikation so hoch ist? Ja, wir haben viele Einheimische, zum Glück. Wir haben viele langjährigen Mitarbeitende, die schon seit 30 bis 40 Jahren bei uns sind und sich sehr stark mit dem Haus identifizieren.
Nun rechnen Sie zwei Jahre mit einem Verlust. Vor allem wegen der Personalkosten, oder? Ja, aber nicht nur. Die Kosten steigen auch bei den Medikamenten, beim Material, beim Strom. Die Lohnsumme in der Pflege erhöhen wir um 14 Prozent; insgesamt über das ganze Spital steigt die Lohnsumme um 7,7 Prozent.
Das Spital erhält vom Kanton jährlich um die 4 Millionen Franken. Ist es strukturell überhaupt in der Lage, eine Ebitda-Marge von 10 Prozent zu erwirtschaften? Momentan sicher nicht. Gemäss der Eigentümerstrategie sollten wir mittelfristig 8 Prozent erreichen.
Vielleicht müssten Sie Abteilungen schliessen. Mit Ihren jährlich 330 Geburten ist die Geburtenabteilung wegen der Vorhalteleistungen wohl defizitär. Wir haben vom Kanton einen Gesamtleistungsauftrag. Gerade die Geburtshilfe ist ein Schlüsselmoment für die Bevölkerung. Dies bedeutet Identifikation mit dem Spital vom Beginn des Lebens bis zum Ende des Lebens. Wenn wir damit anfangen würden, Abteilungen zu schliessen, hätten wir einen Dominoeffekt. Dann käme die Gynäkologie, dann die OP....
... doch eher die Intensivstation. Wenn die Kosten das alleinige Entscheidungskriterium wären, hätten wir wie jedes Regionalspital in der Schweiz keine Chance. Wir müssen die gesellschaftlichen und die volkswirtschaftlichen Aspekte als Gesamtpaket betrachten. Wir haben den Auftrag, die medizinische Grundversorgung in einem ländlichen Kanton zu gewährleisten. Wir haben das bereits genannte Thema der Identifikation der Bevölkerung. Wir sind ein Ausbildungsspital, der grösste Arbeitgeber im Kanton und sind aus wirtschaftlicher Sicht wichtig für die regionale Wertschöpfung. Wir dürfen auf keinen Fall nur den Kostenaspekt anschauen und defizitäre Abteilungen streichen.
Ihre Argumente, weshalb eine Geburtenabteilung für ein Regionalspital wichtig ist, leuchten ein. Für die Intensivstation kann man das kaum behaupten. Natürlich stellen wir uns die Frage, ob eine IMC, eine Immediate Care, nicht ausreichen würde. Momentan haben wir das Patientengut, um eine Intensivstation zu betreiben. Wir haben einen sehr hohen Case-mix-Index. Das kann sich aber jederzeit ändern. Matchentscheidend sind aber nicht die Kosten, sondern die Frage, ob wir das dazu notwendige Personal mit der entsprechenden Spezialausbildung nach Glarus holen können.
Also nochmals; Sie wollen nicht abspecken und verständlicherweise höhere Löhne zahlen. Wie wollen Sie eine Ebitda-Marge von 8 Prozent erwirtschaften? Es gibt schon Möglichkeiten, Prozesse zu vereinfachen, effektiver zu arbeiten. Das haben wir in den Workshops auch gesehen. Es gibt so viele Tätigkeiten in unserem Alltag, wo der Mehrwert für den Patienten nicht klar ist. Wir hatten teilweise unklare Prozesse, Missverständnisse in der Kommunikation. Da können wir deutlich besser werden. Auch die digitale Transformation, die wir sorgfältig angehen, hilft uns dabei. Zudem sind Kooperationen ein wichtiges Instrument – wie wir sie beispielsweise in der Psychiatrie sehr erfolgreich mit dem Kanton Graubünden pflegen.
Sagen Sie, vorher hätte das Spital nicht effizient gearbeitet? Den Begriff der Effizienz finde ich schwierig. Das hat immer auch mit Schnelligkeit zu tun, aber diese ist nicht primär entscheidend. Besser ist Effektivität, die Wirksamkeit und die konsequente Patientenorientierung. Machen hier die Pflegefachpersonen wirklich das Richtige und Wichtige? Was könnten sie an pflegefremden Tätigkeiten abgeben? Wie können wir Mitarbeitende entlasten, wie können wir Ballast abwerfen, wie schafft man es, dass die Pflegenden mehr Zeit für die Patienten haben?
Und dann die Frage, wo die Patienten betreut werden. Muss ein chirurgischer Patient unbedingt in der ausgelasteten Chirurgie liegen, obschon es in der Medizin noch freie Betten hat? Wie steuern wir die Ressourcen mit den verschiedenen Schwankungen? Da haben wir noch viel Potenzial.

Zur Person

Stephanie Hackethal ist seit September 2021 CEO im Kantonsspital Glarus. Vorher war sie während fünfeinhalb Jahren COO im Kinderspital Zürich und von Ende 2009 bis Anfang 2016 war die gebürtige Norddeutsche mit Schweizer Pass im Spital Bülach tätig. Dr. med. Stefanie Hackethal studierte in Hamburg Humanmedizin. Sie besitzt das «Diplom Gesundheitsökonom » vom Betriebswirtschaftlichen Institut Deutschland. Zudem erwarb sie an der Uni St. Gallen den CAS für «Systemisches Management».

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