«Kritiker der Komplementärmedizin haben eine zu einseitige Sicht»

SP-Ständerätin Franziska Roth kritisiert im Interview die Haltung von Gegnern der Komplementärmedizin. Sie verkennen den Wert der ärztlichen Expertise.

, 22. Oktober 2024 um 03:55
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SP-Ständerätin Franziska Roth beim Interview im Bundeshaus. | Bild: cch
Frau Roth, auf welche komplementärmedizinischen Behandlungen schwören Sie?
Ich habe das Glück, dass es in meinem Umfeld viele Ärztinnen und Ärzte gibt, die mich beraten können. Meine Schwester ist meine Hausärztin, bei der ich auch schon mit Homöopathie behandelt wurde. Phytotherapie habe ich auch schon selber erfahren. Chinesische TCM habe ich in letzter Zeit kaum mehr in Anspruch genommen. Ich war sowieso – mit Ausnahme nach Sportunfällen – in letzter Zeit kaum in ärztlicher Behandlung. Holz anrühren.
Wie wir wissen, vermögen diese Disziplinen die Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) nicht zu erfüllen. Und trotzdem können sie über die Grundversicherung abgerechnet werden.
Woher wissen «wir» das? Es gibt zig Studien, welche die Evidenz der Wirksamkeit belegen.
Evidenzbasiert heisst, dass sich die Wirksamkeit nicht wissenschaftlich erhärten lässt.
Kritikerinnen und Kritiker evidenzbasierter Medizin haben eine völlig einäugige Sicht. Sie meinen, Medizin basiere auf Zahlen. Natürlich sind Studien wichtig, aber die ärztliche Erfahrung mit Therapien ist ein ganz wichtiger Bestandteil der Evidenz. Würde man diesen Punkt ausser acht lassen, müsste man einen ganz grossen Teil der Hausarztmedizin oder psychologische Therapien aus der Grundversicherung schmeissen.

Franziska Roth

Franziska Roth ist Präsidentin des Dachverbands Komplementärmedizin und präsidiert auch die parlamentarische Gruppe Komplementärmedizin, bei der neben linken und grünen Politikerinnen auch Mitte-Ständerätin Brigitte Häberli-Koller und SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor Einsitz nehmen.
SP-Politikerin Franziska Roth ist schulische Heilpädagogin und vertritt seit Dezember 2023 im Ständerat den Kanton Solothurn. Vorher politisierte sie vier Jahre im Nationalrat.
In Artikel 32 KVG steht: «Die Leistungen müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein.» Nach Ihren Worten ist das ein toter Buchstabe.
Überhaupt nicht. Auf Grund der Studienlage und der umfangreichen klinischen Erfahrungen wird – wie bei allen anderen ärztlichen Leistungen – im Rahmen des Vertrauensprinzips zurecht davon ausgegangen, dass die Anforderungen von Artikel 32 KVG erfüllt werden. Selbstverständlich braucht es Kriterien. Sie sind aber nicht immer ausschliesslich in Zahlen messbar.
Wie meinen Sie das?
Als schulische Heilpädagogin kenne ich Beispiele, in denen Kinder zum Psychiater gehen oder psychologische Behandlungen in Anspruch nehmen. Ich erlebe bei ihnen die Wirksamkeit. Man kann sie nicht in Zahlen messen. Man kann sie aber im Verhalten des Kindes belegen.
FDP-Nationalrat Philippe Nantermod sagte in der Ratsdebatte: «Es lässt sich nicht rechtfertigen, dass alle Versicherten gezwungen werden, Leistungen mitzufinanzieren, die im Wesentlichen auf der inneren Überzeugung einiger Ärztinnen und Ärzte und einiger Versicherten beruhen, nicht aber auf objektiven wissenschaftlichen Daten.»
Da sind wir wieder bei den WZW-Kriterien. Ich möchte wissen, was Philippe Nantermod unter objektiv wissenschaftlichen Daten versteht. Er blendet aus, dass für die Beurteilung der Wirksamkeit von medizinischen Leistungen neben Studien die oben erwähnte ärztliche Expertise und Erfahrung äusserst relevant sind. Zu unterstellen, dass Ärzte die Patientinnen und Patienten auf Grund diffuser inneren Überzeugungen mit unwirksamen Therapien behandeln, ist ziemlich infam.
Die oben zitierte Aussage von Nantermod stammt aus der Ratsdebatte zu seiner Motion, bei der es darum geht, Prämienzahlende zu entlasten, sofern sie auf Leistungen der Komplementärmedizin verzichten. Der Nationalrat stimmte der Motion in der zurückliegenden Session zu.
Wir werden alles versuchen, dass der Ständerat diese Motion ablehnen wird. Eben erst besuchte ich die integrative Klinik Arlesheim. Sie ist Mitglied vom Verein «Integrative Kliniken». Dort finden sich inzwischen namhafte Mitglieder vom

«Wenn Nantermod der Meinung ist, das sei eine Spinneritis einiger weniger Hausärzte, so ist das eine Arroganz sondergleichen.»

Kantonsspital St. Gallen, dem Gesundheitszentrum Unterengadin, dem Kantonsspital Freiburg bis hin zur Hirslandenklinik Zürich. Zudem haben wir in der Schweiz renommierte Universitäten, die Institute für integrative und komplementärmedizinische Angebote führen und Forschung betreiben. Wenn Nantermod der Meinung ist, das sei eine Spinneritis einiger weniger Hausärzte, so ist das eine Arroganz sondergleichen. Diese Aussage ist ganz sicher nicht evidenzbasiert.
Warum sollen Prämienzahler nicht das Recht auf günstigere Prämien haben, wenn sie auf die Deckung komplementärmedizinischer Leistungen verzichten?
Im Jahr werden 34,5 Milliarden Franken über die Grundversicherung abgerechnet. Davon entfallen 18 Millionen auf die Komplementärmedizin. Das sind 0,05 Prozent.
Es geht ja nicht darum, komplementärmedizinische Leistungen aus der Grundversicherung zu streichen. Es geht darum, Prämienreduktionen zu gewähren für jene, die davon nichts halten.
Glauben Sie also wirklich, dass die Prämien dadurch günstiger werden? Die Vorstösse von Philippe Nantermod beziehen sich nicht nur auf komplementärmedizinische Leistungen, sondern auf alle ärztlichen Behandlungen, die nach seinem verkürzten Verständnis von medizinischer Evidenz ihre Wirksamkeit nicht ausreichend nachweisen können.
Ist das so?
Konsequenterweise müsste dann für sämtliche Leistungen, für welche das Vertrauensprinzip gilt, eine Wahlfreiheit geschaffen werden. Das ist ein Aufruf zur Abschaffung der solidarischen Grundversicherung zu Gunsten der Zweiklassenmedizin. Wer so etwas fordert, nimmt die Verfassung nicht ernst. 2009 haben 67 Prozent der Stimmbevölkerung der Initiative «Ja zur Komplementärmedizin» zugestimmt. Ich wage die Prognose, dass heute die Zustimmung bei über 70 Prozent liegen würde. Komplementärmedizin gehört in die Grundversicherung.
Das streitet niemand ab. Wir haben schon heute in der Grundversicherung alternative Versicherungsmodelle mit unterschiedlichen Prämien, je nachdem, ob man ein Telmed- oder ein Hausarzt- oder sonst ein alternatives Modell wählt.
Das ist keine gute Entwicklung. Seit über 37 Jahren arbeite ich als schulische Heilpädagogin. Ich habe mit Familien aus allen Bildungs- und Einkommensschichten zu tun und kenne sehr traurige Geschichten, in denen Menschen nicht zum Arzt gingen, weil sie eine hohe Franchise gewählt hatten. Schliesslich mussten sie mit einer schweren Blutvergiftung ins Spital, was für alle viel teurer wurde.
Die Franchise ist das eine. Hier geht es darum, dass komplementärmedizinische Therapien grundsätzlich grundversichert sind. Nur wer ausdrücklich darauf verzichtet, geniesst einen Prämienrabatt.
Man darf in der obligatorischen Grundversicherung nicht jemanden benachteiligen, der vor ein paar Jahren punkto Komplementärmedizin noch eine andere Meinung hatte. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung will sich integrativ, ganzheitlich komplementär behandeln lassen. Die Leute sind heute besser informiert als früher. Sie wissen, dass komplementärmedizinische Methoden nützen. Gerade bei Post- und Longcovid haben wir das gesehen.
Nun hat der Ständerat einer Lockerung des Vertragszwangs zugestimmt. Das könnte darauf hinauslaufen, dass Krankenkassen mit jenen Ärztinnen und Ärzten keine Verträge abschliessen, die komplementärmedizinische Leistungen anbieten.
Ja, da haben wir gar keine Freude. Wie bei der Motion Nantermod werden wir auch hier versuchen, den Zweitrat umzustimmen. Das käme einer Stärkung der Krankenkassen gleich. Eine Katastrophe.
Katastrophe? Sie übertreiben.
Ich unterstelle den Krankenversicherern, dass sie die Komplementärmedizin nicht in der Grundversicherung haben wollen, damit sie mehr Zusatzversicherungen abschliessen können. Für sie ist das lukrativer.
Derzeit sind fünf komplementärmedizinische Therapien obligatorisch grundversichert. Warum gehört eigentlich Osteopathie nicht dazu? Hier sind die WZW-Kriterien sogar im engeren Sinne erfüllt.
Ich habe mich auch schon bei einem Osteopathen behandeln lassen und selber bezahlt. Ja, das ist ein Mangel. Aber die Osteopathen sind auch nicht Mitglied des Dachverbands Komplementärmedizin.
Planen Sie einen Vorstoss, damit Osteopathie oder zum Beispiel auch medizinische Massagen grundversichert sind?
Für die Zukunft schliesse ich das nicht aus. Aber im Moment versuche ich mich dafür stark zu machen, dass nichts gestrichen wird. Im Moment zeigt der Zeiger im Parlament eher auf Rückschritt ins letzte Jahrhundert.

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