«Sexuelle Übergriffe im Spital werden heute direkter thematisiert»

Sexuelle Übergriffe durch Patienten sind in Spitälern verbreitet. Rechtsprofessorin Brigitte Tag zur Frage, wie die Gesundheitsinstitutionen hier in der Pflicht stehen.

, 15. November 2023 um 17:36
letzte Aktualisierung: 16. Januar 2024 um 06:52
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Brigitte Tag lehrt und forscht seit 2002 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und hat den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht inne. | zvg
Laut einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW (Medinside berichtete) wurden 96 Prozent des Gesundheitspersonals bereits Opfer von sexueller Belästigung. Frau Tag, ist die Situation tatsächlich so dramatisch?
Die Studie aus dem Jahr 2023 zeigt eindrücklich, dass sexuelle Belästigungen und sexistisches Verhalten durch Patienten oft vorkommen und Pflegefachkräfte, vorrangig Frauen, sehr häufig davon betroffen sind. Das sind wichtige Aussagen, die von den Entscheidungsträgern und insbesondere den Spitälern ernst genommen werden müssen. Allerdings sind solche Studien auch limitiert, sie können nicht ohne weiteres verallgemeinert und müssen im Detail sorgfältig angeschaut werden. Eine umfassende Erhebung – etwa vom Bund – gibt es bisher leider nicht.
Wie diese Zahlen zustande kommen, ist das eine – zugleich schaffen sie aber Aufmerksamkeit für ein Thema, das Handlungsbedarf verlangt. Ist dieses Bewusstsein im Gesundheitswesen vorhanden?
Jein. Das Bewusstsein dafür wächst stetig und wir sind auf gutem Weg. Viele Spitäler haben die Bedeutung des Themas erkannt und haben eine «Null Toleranz» Haltung in ihrer internen Kultur verankert. Dies bedeutet auch, dass das Thema aktiv angegangen wird.
Was fällt überhaupt unter den Begriff «Sexuelle Belästigung»?
Die sexuelle Belästigung ist ein Oberbegriff für persönlichkeitsverletzende Verhaltensweisen mit sexuellem Bezug. Erfasst werden solche, die sich unterhalb der Schwelle des Strafrechts bewegen, etwa anzügliche, taxierende Blicke, Anspielungen oder «zufällige» Körperberührungen mit sexuellem Bezug, aber auch sexistische Verhaltensweisen, bei welchen die Diskriminierung aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit im Vordergrund steht.
«Jede sexuelle Belästigung, die verhindert oder zumindest aufgeklärt werden kann, ist bedeutsam – für die geschützte Person, das Arbeitsklima und für die Institution.»
Und dann fallen strafrechtlich relevante Handlungen darunter, wie das ungewollte Zeigen von pornografischen Bildern, das Herabwürdigen eines anderen aufgrund seines Geschlechts durch grobe Worte oder sexuell konnotierte Tätlichkeiten. Darüber hinaus sind die noch schwereren Übergriffe, wie die sexuelle Nötigung oder die Vergewaltigung, zu nennen.
Laut der ZHAW-Studie waren mehr als zwei Drittel der Betroffenen Opfer von physischen Übergriffen wie Berührungen, Küsse, Streicheln oder Umarmungen. Andere Befragte berichteten von Patienten, die masturbierten, sich auszogen oder ihnen Avancen machten. Weshalb sind Gesundheitsfachpersonen überdurchschnittlich von sexuellen Übergriffen betroffen?
Hierfür gibt es einige Gründe. Mit einem Anteil von 90 Prozent arbeiten überdurchschnittlich viele Frauen in der Pflege. Sie sind nahe am Patienten dran, müssen ihn anfassen und körperlich versorgen. Diese Abhängigkeit wird häufig als erniedrigend empfunden und sexuelle Belästigung als Mittel interpretiert und genutzt, um Selbstständigkeit zurückzuerhalten.
Ein Machtspiel?
Ja, der Täter will sein Opfer sich selbst unterordnen. Ebenso können grosser Stress und Verzweiflung, Medikamentenwirkung, aber auch Unzufriedenheit dazu führen, dass, anstelle von Dankbarkeit und Wertschätzung, Grenzen überschritten und verbale, physische und sexuelle Gewalt angewandt werden. Aber auch ein unterschiedliches kulturelles Rollenverständnis kann sexuelle Übergriffe begünstigen.
«Sexistisches Verhalten wird heute direkter thematisiert. Zugleich besteht im Gesundheitswesen eine gewisse Unsicherheit, wie vorzugehen ist.»
Gibt es ein typisches Täterprofil?
Nein. Ebenso vielfältig wie sich sexuelle Belästigungen und Übergriffe ereignen können, gibt es eine grosse Vielfalt an Personen mit unterschiedlichen Merkmalen oder auch «Profilen», die die gezogenen Grenzen überschreiten.
Was hat sich durch die «Me-too»-Debatte im Gesundheitswesen verändert?
Die Awareness hat sich verändert: Während früher insgesamt und insbesondere auch in den Gesundheitsberufen viel mehr hingenommen wurde, ist man heute sehr viel sensibilisierter. Das Bewusstsein für Grenzüberschreitung und, dass man das so nicht hinnehmen möchte, hat deutlich zugenommen. Sexuelle Belästigung und sexistisches Verhalten werden heute direkter thematisiert. Zugleich besteht im Gesundheitswesen eine gewisse Unsicherheit, wie vorzugehen ist, um Übergriffen, die etwa durch bewusstseinseingeschränkte Patienten erfolgten, angemessen Einhalt zu gebieten.
Welche Rolle spielt Prävention innerhalb der Gesundheitsinstitutionen?
Diese ist zentral. Immer mehr Spitaler und Gesundheitseinrichtungen führen Schulungen durch, lancieren Sensibilisierungskampagnen und initiieren Gesprächsforen zum Thema ‘Schutz vor sexueller Belästigung’. Jede sexuelle Belästigung, die verhindert oder zumindest aufgeklärt werden kann, ist bedeutsam – für die geschützte Person, das Arbeitsklima und für die Institution.
«Ein unterschiedliches kulturelles Rollenverständnis kann sexuelle Übergriffe begünstigen.»
Indem heute viel offener mit dem Thema umgegangen wird und gesellschaftlich eine erhöhte Sensibilität besteht, sinkt die Hemmschwelle, Übergriffe zu melden. Wichtig ist eine seriöse Abklärung des Verdachts sexueller Belästigung im konkreten Fall und das Verhängen von Massnahmen gegenüber fehlbaren Personen. Mit diesem Signal wird allen und damit auch den Patienten gegenüber deutlich, dass die Gesundheitseinrichtung die «Null Toleranz-Haltung» als Teil ihres Wertekodex lebt.
Rein strafrechtlich gesehen ist der Straftatbestand der sexuellen Belästigung «nur» eine Übertretung, ein Delikt der leichtesten Kategorie. Patienten haben damit kaum etwas zu befürchten…
Artikel 198 des Strafgesetzbuches ist in der Tat eine nur eine Übertretung. Und die Strafverfolgung setzt einen rechtzeitig, innerhalb von drei Monaten, gestellten Strafantrag voraus. Dennoch handelt es sich um ein Strafverfahren und nicht um eine Bagatelle. Es kann eine Busse bis zu 10'000 Franken ausgesprochen werden. Das gleiche gilt für das ungewollte Zeigen von Pornographie, soweit das Opfer nicht unter 16 Jahren ist.
Angezeigt werden die Fälle jedoch selten, oder wie erleben Sie das?
Eine gute Beratung ist hier unerlässlich. Denn es ist tatsächlich ein oft steiniger Weg, den man sich gut überlegen sollte. Und, der auch dazu führen kann, dass das Opfer mit dem Ausgang des Verfahrens nicht einig ist. Im Strafrecht gilt der Grundsatz «in dubio pro reo», das heisst, wenn der Staat das strafbare Verhalten nicht beweisen kann, wird ein Verfahren eingestellt resp. es erfolgt ein Freispruch. Da sexuelle Belästigungen typischerweise nicht in Anwesenheit von Zeugen begangen werden, ist der Nachweis oft schwierig.
«Natürlich gibt es auch innerhalb von Gleichrangigen sexuelle Belästigungen, aber selbst dort stellt man oftmals hierarchische Verhältnisse fest.»
Was raten Sie?
Die Gesundheitseinrichtungen sind in der Pflicht, eine solide Abklärung zu machen, die Mitarbeitenden miteinzubeziehen und idealerweise gemeinsam Lösungen zu finden. Dazu gehört auch, gegenüber dem übergriffigen Patienten eine klare Haltung einzunehmen. Das Unternehmen als Arbeitgeber muss seine Fürsorgepflicht wahrnehmen und sich vor seine Mitarbeitenden stellen.
Dazu sind die Institutionen auch gesetzlich verpflichtet.
Genau. Das Gleichstellungsgesetz verpflichtet die Arbeitgebenden, Präventionsschutz vor sexuellen Belästigungen zu betreiben und entsprechende Abklärungen zu tätigen, wenn eine Belästigung gemeldet wird. Bei einer Diskriminierung durch sexuelle Belästigung machen sich die Arbeitgebenden schadensersatzpflichtig, wenn sie nicht beweisen können, dass zumutbare Massnahmen getroffen wurden, um eine sexuelle Belästigungen zu verhindern. Letztlich ist aber alles eine Frage der gelebten Kultur, des gegenseitigen Respekts und der Achtung.
Nicht nur Patienten sind Täter – laut einer Umfrage der Universität Zürich von 2022 gaben 24 Prozent der Medizinstudentinnen an, Opfer von sexueller Belästigung oder Sexismus durch ihre Vorgesetzten (57 Prozent Kaderärzte oder Oberärzte) geworden zu sein. Inwiefern begünstigen hierarchische Verhältnisse Übergriffe? Diese Untersuchung bringt Licht in bislang so nicht bekanntgewordene Umstände. Inhaltlich hat sie sich auf Sexismuserfahrungen und Erlebnisse mit sexuellen Mikroaggressionen bezogen, häufigste genannte Zeitpunkte waren das Wahlstudienjahr mit dem klinische Praktikum. Der Faktor ‘Macht’, hierarchische Verhältnisse und homogene Führungsstrukturen, können hier eine grosse Rolle spielen, aber auch die ersten Erfahrungen am Krankenbett und im Operationssaal, was angehendeÄrzte besonders vulnerabel macht. Natürlich gibt es auch innerhalb von Gleichrangigen sexuelle Belästigungen, aber selbst dort stellt man oftmals hierarchische Verhältnisse fest.
«Es braucht daher regelmässig Sensibilisierungsarbeit, um sicherzustellen, dass alle wissen, wo die Grenzen sind, die betroffenen Personen informiert werden, wo Unterstützung zu finden ist, wenn diese Grenzen ausser Acht gelassen wurden.»
Zugleich hält sich bei vielen Männern auch die Angst vor falschen Anschuldigungen. Fake-Anzeigen, aus den unterschiedlichsten Motiven, kommen leider immer wieder vor und man muss auch hier sehr genau hinschauen. Eine solche Anschuldigung hat einschneidende Konsequenzen und darf nicht toleriert werden. Aber wir haben nicht nur das Opfer zu schützen, sondern auch die Rechte der angeschuldigten Person. Daher braucht es erfahrene, verlässliche Anlaufstellen, die die Vorkommnisse neutral untersuchen.
Brigitte Tag lehrt und forscht seit 2002 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Sie hat den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht inne und baute den interdisziplinären Forschungsbereich Medizin-Ethik-Recht sowie den Schutz vor sexueller Belästigung an der Universität Zürich massgeblich auf. Sie ist Untersuchende Person in Fällen sexueller Belästigung an der Universität Zürich und führt die hiermit verbundenen Verfahren. Zudem leitet sie das Kompetenzzentrum Medizin-Ethik-Recht Helvetiae (MERH) sowie Weiterbildungsstudiengänge im Bereich MedLaw, Law for medics and Health Professionals und Rare Diseases. Brigitte Tag engagiert in Stiftungen und Kommissionen, wie z.B. der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin. Zugleich ist sie Rechtsanwältin, zugelassen beim OLG Frankfurt a.M. und Partnerin sowie Verwaltungsrätin der Vicimed AG.

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