«Internationale Studien aus Grossbritannien, den Niederlanden und Norwegen zeigen, dass die Kosten für die Versicherer, die öffentliche Hand und die Versicherten reduziert werden können, wenn Patientinnen und Patienten bei ausgewählten Leistungen direkt zur Physiotherapie gehen». Das schreibt der Berner SP-Ständerat Hans Stöckli in einer
Interpellation, die für Mittwoch der letzten Sessionswoche im Ständerat traktandiert ist.
Nach Stöcklis Informationen benötigten jene Patientinnen und Patientensie durchschnittlich weniger Therapieeinheiten. Verglichen mit Patientinnen und Patienten mit einer ärztlichen Überweisung gäben sie häufiger an, ihr Therapieziel vollständig erreicht zu haben.
Mit dieser Interpellation will der im Herbst nicht zur Wiederwahl antretende Stöckli vom Bundesrat unter anderem wissen,
- ob ihm die entsprechenden Kostensparmöglichkeiten bekannt seien,
- ob ein Direktzugang möglich sei, sofern die Kosteneinsparungen erwiesen sei,
- ob die geltende ärztliche Anordnung nicht gegen das WZW-Prinzip - Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit - verstosse, wenn nachgewiesen werden könne, dass die geltende Lösung zu Mehrkosten und gegebenenfalls zu unnötigen Leistungen führe.
Wie so oft geht der Bundesrat auch hier nicht wirklich auf die Fragen ein und verweist in seiner Stellungnahme vom 1. Februar 2023 auf frühere ähnliche und identische Vorstösse. Er schreibt, die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) sei eine reine Kostenrückerstattungsversicherung, dessen System auf dem Diagnose- und Anordnungsmonopol der Ärztinnen und Ärzte basiere.
«Nicht angebracht»
Eine Erweiterung des Kreises der Leistungserbringer mit Direktzugang für die Patientinnen und Patienten ist nach seiner Ansicht «nicht angebracht und könnte zu erheblichen Mehrkosten ohne gesundheitlichen Mehrwert führen.»
Was jetzt? Führt ein Direktzugang zur Physio zu Kostenersparnissen oder zu Mehrkosten? Für den Bundesrat sind die Systeme bei den anderen Ländern nicht vergleichbar. Mit Ausnahme der Niederlande verfügten sie über staatliche Gesundheitssysteme oder Systeme mit starker zentraler Steuerung oder Globalbudgets. Und in den Niederlanden bezahle die Grundversicherung zwar physiotherapeutische Leistungen ohne ärztliche Anordnung, allerdings nur bei chronischen Krankheiten. Zudem müssten die Versicherten die ersten zehn Behandlungen selber bezahlen.
Dauerbrenner
Das von Hans Stöckli vorgebrachte Anliegen ist in Bundesbern ein wiederkehrendes Thema. Schon im Juni 2012 reichte die SP-Politikerin Marina Carobbio Guscetti ein Postulat mit dem Titel «Direkter Zugang zur Physiotherapie» ein. Damals war sie Nationalrätin, heute sitzt sie für den Kanton Tessin im Ständerat. Auch sie stellte damals fest, dass immer mehr Länder den direkten Zugang zur Physiotherapie einführten. Namentlich Schweden, Norwegen, die Niederlande, Italien, Grossbritannien, Australien und Kanada.
«Die Physiotherapieausbildung ist mit der Bologna-Reform im Jahr 2006 akademisch geworden», schrieb Marina Carobbio Guscetti damals. Dies hätte auch in der Schweiz die Diskussion über die Möglichkeit des direkten Zugangs zur Physiotherapie neu lanciert. «Wenn man in Betracht zieht, dass die Interdisziplinarität eine immer grössere Rolle spielt, könnte man mit einem direkten Zugang bestimmten Krankheitsbildern besser gerecht werden», so die Tessinerin, die selber Ärztin ist.
Mehrkosten statt Einsparung
Schon fast zynisch meinte der Bundesrat damals, die Schweizer Bevölkerung hätte bereits heute die Möglichkeit, Physiotherapeutinnen und -therapeuten ohne ärztliche Überweisung aufzusuchen, «allerdings auf eigene Rechnung.» Und schon damals sagte der Bundesrat: «Es kann zu erheblichen Mehrkosten ohne gesundheitlichen Mehrwert führen.»
Vier Jahre später, im März 2016, versuchte es der grünliberale Jürg Grossen mit dem fast identischen Anliegen. Die Diskussion zu seiner Interpellation «Direktzugang zu Physiotherapieleistungen» wurde im Nationalrat verschoben und später abgeschrieben, weil sie nicht innert zwei Jahren abschliessend im Rat behandelt werden konnte.
Kampf dem Hausärztemangel
Und jetzt also Hans Stöckli mit einem erneuten Anlauf. Der ehemalige Stadtpräsident von Biel weist zudem darauf hin, dass neben der Konsultation bei der Hausärztin oder dem Hausarzt auch Kosten für Schmerzmedikamente und teilweise unnötige bildgebende Verfahren verschrieben werden. Laut Studien würden in der Schweiz über 85 Prozent der Patientinnen und Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen Schmerzmittel verschrieben. Davon erhielten 30 Prozent ein Opiat, obwohl bei diesen Medikamenten ein Suchtpotential bestehe und diese gemäss Smarter Medicine bei unspezifischen Rückenschmerzen nicht eingesetzt werden sollten.
Und schliesslich meint Hans Stöckli, dass beim Erstkontakt in der Physiotherapie tendenziell auch weniger bildgebende Diagnostik angeordnet und weniger invasive Behandlungen durchgeführt würden. Auch könne mit einem Direktzugang zur Physio dem Hausärztemangel entgegengewirkt werden.