Am morgen früh vor der Schule kommen die Psychologin und der Pfleger nach Hause, abends gibt es eine Visite der Ärztin: So könnte in der Region Bern künftig der Alltag eines jungen Menschen mit einer akuten psychischen Erkrankung aussehen.
Die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD testet für zwei Jahre ein neues Angebot, das Kindern und Jugendlichen längere Klinikaufenthalte ersparen soll. Die jungen Patienten können in ihrer vertrauten Umgebung bei ihrer Familie, ihren Freunden und in ihrer Schule bleiben. Denn die Ärzte, Psychologen, Pflegekräften und Pädagogen, die sie betreuen, kommen zu ihn nach Hause.
Therapie soll originell, mobil und effektiv sein
Das Projekt heisst AT_HOME. Der Name steht als Abkürzung für «Aufsuchende Therapie – zu Hause, Originell, Mobil, Effektiv». Die Behandlung sei «stationsäquivalent». Das heisst: Die «mobile Station» entspricht in der Personalzusammensetzung und in der Behandlungsintensität einer Station der Universitätsklinik.
Deshalb ist das Projekt für jene Kinder und Jugendlichen gedacht, die bisher nur in einer Klinik oder Tagesklinik behandelt werden konnten. «Da stationäre Behandlungen junge Menschen oft für längere Zeit aus ihrem Leben reissen und somit immer auch die Gefahr einer erschwerten Rückkehr in den Alltag bergen, erhoffen wir uns von der neuen Behandlungsstrategie vor allem nachhaltigere Therapieerfolge», sagt Michael Kaess, Direktor und Chefarzt Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.
Die Betreuer arbeiten in Schichten
Das Betreuungsteam, das die Kinder und Jugendlichen zu Hause betreut umfasst ein Dutzend Mitarbeiter, die im Schichtsystem arbeiten, wie Michael Kaess ausführt. Da die Kinder einen möglichst normalen Alltag weiterführen, ist es gut möglich, dass die Teammitglieder auch mal früh morgens oder abends unterwegs sind.
Wie auf der Klinikstation werden Ärzte, Psychologen, Pflegekräfte und Pädagogen ihre Besuche zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlicher Zusammensetzung machen. Für ihre Einsätze werden sie von einer Koordinatorin eingeteilt, damit alle zur richtigen Zeit am richtigen Ort erscheinen.
40 Kinder können pro Jahr betreut werden
Vorderhand will die Klinik zehn Kinder zu Hause betreuen. Vorgesehen ist jeweils eine maximale Behandlungsdauer von drei Monaten. Das Projekt wird eingehend wissenschaftlich untersucht. «Wir wollen wissen, ob wir damit gleiche oder vielleicht sogar bessere Erfolge haben», sagt Michael Kaess.
Wegen der wissenschaftlichen Begleitung wählt die Klinik die jungen Patienten, die für AT_HOME in Frage kommen, ausschliesslich aus jenen Patienten aus, die eigentlich für einen Klinikaufenthalt angemeldet sind. «Nur so lassen sich die Resultate direkt mit einem regulären Klinikaufenthalt vergleichen», erklärt Michael Kaess. Aus dem gleichen Grund sollen die jungen Patienten auch nicht zuerst stationär «anbehandelt» und danach zu Hause weiterbehandelt werden.
Warteliste für die Klinik
Derzeit gibt es für reguläre stationäre Aufenthalte in der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie eine Wartezeit von zwei bis drei Monaten. Die zusätzlichen zehn «stationsäquivalenten» Plätze im AT_HOME-Projekt dürften zu einer Entlastung führen. Michael Kaess ist aber nicht sicher, ob es auch langfristig die Warteliste verkürzen wird.
Die mobile Klinik gibt es vorläufig für zwei Jahre in der der Region Bern. Die Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern fördert sie im Rahmen des Modellversuchs Psychiatrische Akutbehandlung zu Hause (PAH).
Ein Modell für die Zukunft?
«Sollte sich die die neue Behandlungsform als wirksam erweisen, könnte in Zukunft ein grösserer Teil der Kinder und Jugendlichen mit akuten psychischen Erkrankungen im Kanton Bern zu Hause effizient und möglicherweise geringeren Kosten behandelt werden», stellt Michael Kaess in Aussicht.
Michael Kaess, Direktor und Chefarzt Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, leitet das Prjekt AT_HOME. | Bild: PD