So legen Patienten ihre behandelnden Ärzte herein

Sie täuschen vor, fälschen und verschlimmern. Manchmal plump, manchmal überzeugend. Das sind die häufigsten Methoden der «Münchhausen-Patienten».

, 10. August 2020 um 12:03
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Die meisten Ärztinnen und Ärzte kennen Patienten oder Patientinnen, die Krankheitssymptome, Verletzungen oder Beeinträchtigungen vorgetäuscht haben. Im Fachjargon wird dieses Krankheitsbild als «Münchhausen-Syndrom» bezeichnet, benannt nach dem berühmten Baron von Münchhausen. So werden dem weit gereisten Baron dramatische und unwahre Geschichten zugeschrieben.
Gründe für dieses Verhalten können sein: Erwerb von Invaliditätszahlungen und andere Belohnungen oder Anreize. Es können aber auch unbewusste Motive wie primärer Krankheitsgewinn zugrunde liegen, wie der Neurologe Jürg Kesselring in der Fachzeitschrift «Primary and Hospital Care» schreibt. Kesselring forscht am Rehazentrum in Valens und war dort lange Chefarzt für Neurologie und Rehabilitation.

Einspritzen von Kot, Selbstverletzung, Medikamente

Die konstruierten Krankheiten, die erst nach mehrmonatigem bis mehrjährigem Verlauf diagnostiziert werden, können gemäss Kesselring in allen medizinischen Fachgebieten vorkommen: Am häufigsten seien wiederholte Abszesse, Wundheilungsstörungen, künstliche Fieberzustände und Anämien. Auch seien vielfache Operationen mit schweren Folgeschäden bis hin zu regelrechten Verstümmelungen keine Seltenheit. 

Häufige Methoden der ­Selbstmanipulation

  • Dermatologie
Aufbringen von Säuren und Laugen oder anderen Substanzen; Kneten, Reiben, Quetschen der Haut; Strangulation von Extremitäten (artifizielle Lymphödeme); subkutanes Einspritzen von infizierten Lösungen, Speichel, Milch, Kot und anderem.
  • Innere Medizin
Künstliches Fieber durch Einnahme pyrogen wirkender Substanzen; Thermometermanipulationen; Fälschung des Krankenblattes.
  • Chirurgie
Vortäuschen abdominaler Schmerzen, Stuhl- und Urinverhalt; Manipulationen an Operationswunden; Erzeugen von Abszessen durch Einspritzen von Kot, Fremdkörpermaterial und vielem mehr; Manipulationen an zentralvenösen Zugängen, Wunddrainagen und anderem.
  • Urologie
Einbringen von Eigen- oder Tierblut durch die Harnröhre oder durch Injektion durch die Bauchdecke in die Blase zur Erzeugung einer Hämaturie; Kontamination des Urins durch Fäkalien, Blut und anderes.
  • Neurologie
Vortäuschen von Lähmungszuständen, Dysästhesien; Einnahme von Anticholinergika; Vortäuschung epileptischer Anfälle, teilweise unter Zuhilfenahme von Medikamenten.
  • Psychiatrie
Vortäuschung von akuter Suizidalität oder psychotischen Zuständen; auch Delirien werden vorgetäuscht; Vortäuschung von Verwirrtheitszuständen oft unter Zuhilfenahme von Medikamenten.
  • Hämatologie
Selbstabnahme von Blut zur Erzeugung von Anämien; selbst herbeigeführtes Bluten; Einnahme von Blutverdünnungsmitteln (Antikoagulanzien); Vortäuschen von HIV-Infektionen.
  • Stoffwechsel
Hyperthyreose durch Einnahme von Schilddrüsenhormonen, Hyperglykämien durch Injektion von Insulin oder Einnahme oraler Antidiabetika; Hypokaliämien durch Einnahme von Diuretika, Lakritzenabusus, Laxanzienabusus; Hyperkalziämie durch Einnahme von Kalzium oder Vitamin D; Cushing-Syndrom durch Einnahme von Prednison, Hyperamylasurie durch Speichelzusatz zum Urin; Anticholinergikaintoxikation durch Einnahme von Sympathikomimetika.
  • Kardiologie
Vortäuschung einer koronaren Herzkrankheit; Einnahme von Betablockern, Clonidin und anderem.
  • Pneumologie
Hämoptysis (Bluthusten) durch vorher geschlucktes ­Eigen- oder Tierblut.
  • Gynäkologie
Vortäuschung von abdominalen Schmerzen, Abwehrspannung; vaginale Blutungen durch mechanische Manipulationen an Portio oder Vagina oder Einführen von Blut; intravaginales Einbringen von ätzenden Lösungen.
  • Pädiatrie
Munchausen syndrome by proxy (Münchhausen-Stellvertretersyndrom); oder genuine artifizielle Symptome bei Kindern und Jugendlichen: meist artifizielles Fieber oder dermatologische Symptome; prinzipiell ist aber auch hier alles möglich.
Quelle: «Primary and Hospital Care»

Häufig auch «Berufe in Weiss» betroffen

Ein typischer Patient, der mit seinem Verhalten das Gesundheitswesen missbraucht, gibt es wohl nicht. Das Durchschnittsalter dieser «Münchhausen-Patientinnen und -Patienten» liegt bei 34 Jahren, wie gemäss Kesselring eine Untersuchung von über 450 Fällen zeigte. Zwei Drittel waren Frauen, über ein Viertel der Betroffenen «Gesundheits- und Laborpersonal». Am häufigsten waren endokrinologische, kardiologische und dermatologische Probleme.
Die diagnostischen Kriterien bei dem «Münchhausen-Snydrom» sind vielschichtig. Oft leiden diese Menschen an einer schweren Beziehungsstörung, hält der Neurologe vor dem Hintergrund der Forschungsresultate weiter fest. Das Krankheitsbild könne zudem mit «schwer narzisstischen, Borderline- oder dissoziale Persönlichkeitsstörungen» in Verbindung stehen. Und auch Medikamentenmissbrauch und delinquentes Verhalten (Antisozialität) würden bei solchen Patienten häufig auftreten.
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