«An sich wertlose Akten, sind aber von bedeutendem wissenschaftsgeschichtlichem Interesse und deshalb aufzubewahren!»: So lautet eine Notiz, die der Psychiater Roland Kuhn als 92-Jähriger zu seinen umfangreichen Archivschachteln gelegt hatte.
Roland Kuhn war überzeugt von seinen wissenschaftlichen Verdiensten. 15 Jahre später zeigt sich im Buch «Testfall Münsterlingen», mit welchen Methoden er diese Verdienste erlangte: Bedenkenlos machte er Medikamentenversuche mit seinen Patienten. Minutiös schildert ein Historikerteam aufgrund von Kuhns eigenen Aufzeichnungen die Hintergründe dieser Versuche.
Kuhn war vom Forschungsdrang beseelt
Er war nicht der einzige Arzt, der so handelte. Viele Psychiatrische Kliniken haben bis in die Achtziger Jahre ihren Patienten nicht zugelassene Arzneimittel zu Testzwecken verabreicht. Das hat sich mittlerweile gezeigt.
Doch Roland Kuhns Versuche waren speziell: Er sei vom Forschungsdrang beseelt gewesen und wollte bleibende Spuren hinterlassen, vermutet das Historikerteam, das die Medikamentenversuche des Psychiaters Roland Kuhn an der Klinik Münsterlingen veröffentlicht hat.
Die «alltäglichen Grenzüberschreitungen» - aus wissenschaftlichem Eifer
Problematisch seien die «alltäglichen Grenzüberschreitungen» gewesen. Aus wissenschaftlichem Eifer habe der Psychiater auf übliche Abklärungen zur Giftigkeit der Präparate verzichtet. Habe er zum Beispiel bei einem Patienten aus Vorsicht eine gefährliche Prüfsubstanz abgesetzt, habe er nicht gezögert, sie dafür einem anderen Patienten zu verabreichen.
Kuhn befolgte nicht einmal die Vorgaben der Pharmafirmen. Er kombinierte nach Gutdünken ungeprüfte mit zugelassenen Medikamenten. Zeigten die Patienten Nebenwirkungen, hörte er nicht auf mit den Versuchen, sondern passte die Dosis an oder suchte andere Probanden. Mindestens 36 Personen sind während oder kurz nach der Verabreichung der Testsubstanzen gestorben. Nur bei 10 von ihnen erwog Roland Kuhn einen Zusammenhang.
Er liess die Versuchstabletten gleich färben wie die normalen Medikamente
Den Angehörigen und den Pathologen erzählte er nichts von den Medikamententests. Auffallend oft, so haben die Historiker festgestellt, habe Kuhn die Verträglichkeit eines Medikaments bei chronisch Schwerkranken getestet, die eine ungünstige Prognose hatten. «Kuhn war vermutlich der Meinung, dass hier nicht mehr viel zu verlieren sei», heisst es im Buch.
Bei Kuhn gingen Versuch und Therapie fliessend ineinander über, stellten die Verfasser fest. Um ihre Einwilligung wurden die Patienten nie gefragt. Offenbar hat er die Pharmafirmen, welche ihm die Testmedikamente lieferten, sogar gebeten, diese gleich zu färben wie die zugelassenen Medikamente – damit die Patienten gar nicht merkten, dass sie ein anderes Medikament erhielten.
Auch Psychiatrie Baselland arbeitete Vergangenheit auf
Nicht nur die Thurgauer Regierung hat eine Untersuchung der Medikamentenforschung an ihrer Psychiatrischen Klinik veranlasst. In einer Studie hat die Universität Zürich auch die Medikamentenversuche der Psychiatrie Baselland (PBL) untersucht.
In Liestal waren die Psychiater aber nicht einem so grossen Forschungsdrang ausgesetzt, wie es Roland Kuhn war. «Die Ärzte scheinen ihre Verantwortung für das Wohl der Patienten ernst genommen zu haben», kamen die Historiker im Fall PBL zum Schluss. Die Versuche wurden offenbar in der Regel abgebrochen, wenn gravierende Nebenwirkungen auftraten oder die Arzneien keine Wirkung zeigten.
Alle Universitätskliniken haben wahrscheinlich mitgemacht
Wie die Versuche in weiteren Schweizer Kliniken durchgeführt worden sind, ist häufig nicht dokumentiert. Doch hat das Forschungsteam, das Münsterlingen unter die Lupe genommen hat, bei der Arbeit in den Archiven Hinweise darauf gefunden, dass auch an mindestens 20 anderen Kliniken Versuche durchgeführt worden sind.
Vermutlich wurden in allen fünf psychiatrischen Universitätskliniken der Schweiz Medikamente getestet. Nämlich im Zürcher Burghölzli, in der Berner Waldau, in der Basler Friedmatt, in der Klinik Cery in Lausanne und in der Klinik Bel-Air in Genf.
Weitere 14 Kliniken haben getestet
Auch in den 14 folgenden Kliniken haben die Forscher Hinweise auf solche Tests gefunden: Im Kanton Zürich in Rheinau und im Schlössli, in Münsingen (BE), Rosegg (SO), St. Urban (LU), Herisau (AR), im Kanton Aargau in Königsfelden und in der Schürmatt, Hasenbühl (BL), Marsens (FR), Breitenau (SH), Littenheid (TG) sowie im Kanton St. Gallen in Will und in St. Pirmensberg.