Bei rund jedem fünften Patienten werden bei Spitaleintritt Anzeichen von Mangelernährung festgestellt. Wie lässt sich das erklären?
Wir stellen Mangelernährung vorwiegend bei älteren Patienten fest, die chronisch krank sind. Oftmals leiden diese Patienten an einer Appetitsregulationsstörung, nehmen zu wenig Eiweiss und Kalorien zu sich – mit gravierenden Folgen. Sie entwickeln eine sogenannte Sarkopenie, verlieren also Skeletmuskulatur, werden schwach und haben spezifische Mangelerscheinungen. Das Risiko für Komplikationen und erhöhte Mortalität steigt stark an.
Zugleich steigt auch die Dauer des Spitalaufenthalts, es fallen Mehrkosten an. Dennoch wurde der Risikofaktor Mangelernährung bislang in den Spitälern eher vernachlässigt. Weshalb?
Die Bedeutung der krankheitsbedingten Mangelernährung wurde bislang unterschätzt und das Thema kontrovers diskutiert. Ernährung hat in der Medizin nach wie vor einen eher geringen Stellenwert und wird nicht als medizinisch-wissenschaftliches Thema angeschaut. Zugleich war bislang unklar, inwieweit ein individualisierter Ernährungsplan tatsächlich einen positiven Effekt auf den Krankheitsverlauf hat, da entsprechende Studien gefehlt haben.
Sie haben dazu gemeinsam mit acht Schweizer Spitälern eine Studie durchgeführt, die genau das untersucht hat. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Wir haben zwei Patientengruppen mit über 2'000 Patientinnen und Patienten untersucht – die eine Gruppe durfte essen was sie wollte gemäss ihrem Appetit, die andere Gruppe erhielt von uns eine individualisierte Ernährungstherapie, um spezifische Ernährungsziele zu erreichen. Das Ergebnis war eindeutig: mit einer individualisierten Ernährung konnte nicht nur die Versorgung mit Energie und Proteinen verbessert werden, sondern es zeigte sich eine deutliche Reduktion von Komplikationen, die Mortalität konnte gesenkt werden, die Behandlungsergebnisse wurden verbessert und die Patienten hatten eine höhere Lebensqualität.
Wie können Risikopatienten bereits zu einem frühen Zeitpunkt erfasst werden?
Mit einem gezielten Screening mittels des sogenannten NRS («Nutritional Risk Screening») können Risikopatienten direkt bei Spitaleintritt evaluiert werden. Dabei berechnet die Spitalsoftware anhand der eingegebenen Werte, ob ein erhöhtes Risiko für Mangelernährung besteht. Ist dies der Fall, wird direkt Alarm beim Ernährungsteam ausgelöst und es folgt ein individuelles Assessment .
In einer EFFORT-Studie hat Philipp Schütz den Nutzen einer individualisierten Ernährung bei Spitalpatientinnen und -patienten untersucht und wurde dafür mit dem
Theodor-Naegeli-Preis 2022 ausgezeichnet.
Eine 2006 vom BAG in Auftrag gegebene Erhebung in 50 Schweizer Spitälern zeigte, dass Mangelernährung zwar mehrheitlich als Problem erkannt wird, dass jedoch Strukturen und Prozesse im Umgang damit weitgehend fehlten. Was hat sich hier verändert?
Die zunehmenden Erkenntnisse haben weltweit zu einem Umdenken geführt und der Risikofaktor Mangelernährung hat an Bedeutung gewonnen. Aber: die Standards in den Spitälern sind noch immer sehr unterschiedlich und viele Risikopatienten werden nicht erkannt. Zugleich führt der Kostendruck in den Spitäler oft dazu, dass bei der Ernährungsberatung gespart wird, da ihre stationäre Leistung nicht direkt zu Taxpunkten führt.
Ist die angespannte Personalsituation nicht ein Knackpunkt? Schliesslich bedeuten die Screenings ein Mehraufwand für das Pflegepersonal, zusätzlich braucht es mehr Ernährungsexperten.
In der Tat sind die Screenings und deren Auswertung mit einem Mehraufwand fürs Spital verbunden. Aber langfristig ist die Behandlung von Mangelernährung auch eine effiziente Massnahme um Kosten einzusparen. Dies fürs Spital, aber auch auf nationaler Ebene.
Stichwort Kosten: Mangelernährung verursacht jährlich Gesamtkosten von rund 526 Millionen Franken. Welche Einsparungen wären hier möglich?
Kosteneinsparungen von 1'400 bis 2'800 Franken bei einem Aufwand von wenigen hundert Franken pro Patient und Spitalaufenthalt erscheinen realistisch. Dabei gilt: Je früher eine Intervention erfolgt, umso besser wirkt sich dies auch wirtschaftlich aus.
Ein mangelernährter Patient, der eine Ernährungstherapie erhält, führt zudem zu einer höheren Kostenpflicht des Falles im DRG System. Wir haben das bei uns am Spital umgerechnet und sind auf zusätzliche Einnahmen von rund einer Million Franken gekommen. Somit wird die Investition in Lohnkosten vom System wieder zurückbezahlt – vorausgesetzt man weist es richtig aus.
Könnte Künstliche Intelligenz in Zukunft bei den Screenings eine Rolle spielen und damit Spitalpersonal entlasten?
Bereits heute kommt KI beim Routine-CT zum Einsatz und kann Risikopatienten erkennen. Bei Patienten mit Mangelernährung zeigt sich oft eine verfettete oder verkleinerte Rückenmuskulatur, mit Muskelschwund. KI erkennt das und filtert diese Patienten heraus. Diese Methode könnt uns künftig helfen, Risikopatienten bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu erkennen, wo präventive Massnahmen wirksam sind.
Facts- Mangelernährung führt zu erhöhter Mortalität im Spital, sowie auch im Langzeitverlauf.
- Die Häufigkeit von infektiösen und nicht infektiösen Komplikationen bei Mangelernährten ist mit ca. 40 Prozent doppelt so hoch wie bei gleichen Patienten ohne Mangelernährung.
- Mangelernährte weisen einen höheren Medikamentenverbrauch im Spital auf und sind bei Entlassung aus dem Spital weniger selbständig.
- Dies trägt dazu bei, dass die Aufenthaltsdauer bei Mangelernährten im Durchschnitt 4,9 Tage länger ist als bei normal Ernährten.
- Neue Studien zeigen aber, dass eine individualisierte Ernährungstherapie den klinischen Verlauf positiv beeinflusst.
Im April 2022 startete die vom Nationalfonds unterstützte EFFORT-II-Studie in Zusammenarbeit mit dem Inselspital und weiteren acht Kliniken in der Schweiz. Diese untersucht, ob eine ambulante Ernährungstherapie nach Spitalentlassung die Mortalität von Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Mangelernährungsrisiko auch langfristig reduzieren kann.