Herr Romanens, Ihr Verein Ethik und Medizin Schweiz engagiert sich stark gegen die gängigen WZW-Ermittlungsverfahren. Nun setzte sich ein Berner Arzt beim Bundesgericht durch: Die Krankenkassen müssen konkretere Belege vorlegen, dass eine Überarztung vorliegt. Und jetzt? Was würden Sie als Krankenkassen-Direktor gegen unwirtschaftliches Benehmen von Ärzten tun?
Ich würde meine Leute anweisen, das zu tun, was jede andere Versicherung auch tut: Mit einer Recherche reale Beweismittel erarbeiten, anstatt einen mangelhaften Algorithmus eine «Schuld» fabrizieren zu lassen, die ein reines mathematisch-statistisches Konstrukt ist und mit der Realität nichts zu tun hat.
Aber was bedeutet das konkret? Wie sollen nun – beweiskräftig – unwirtschaftliche Leistungen nachgewiesen werden?
Die Inspektoren werden nicht umhin kommen, Stichproben zu machen, Patientendossiers einzusehen, Rechnungen zu prüfen. Und da müssen sie sich dann halt auch etwas Wissen der Materie aneignen; das ist dann halt nicht so bequem vom Schreibtisch aus zu haben.
- Michel Romanens ist Facharzt Kardiologie mit eigener Praxis in Olten. Er ist zudem Präsident des Vereins Ethik und Medizin Schweiz VEMS, der ungebunden und auf wissenschaftlicher Grundlage neue Anstösse für die Gesundheitsökonomie erarbeiten will.
Was erwarten Sie nun von der FHM?
Die FMH könnte den Versicherern hierbei sicher behilflich sein, etwa mit medizinischen Beiräten. Sie erweist diesen und dem Gesundheitswesen insgesamt aber einen Bärendienst, wenn sie die mangelhafte Methode der Versicherer in Schutz nimmt und die eigenen Mitglieder im Stich lässt.
In wie vielen Fällen wurden Ihres Erachtens Ärzte in den letzten Jahren ungerechtfertigt zu Rückzahlungen gedrängt? Kennen Sie konkrete Fälle?
An uns wenden sich nur die Mutigen, doch es werden immer mehr… Wenn die Methode der Versicherer 30 Prozent der Praxisärzte als Auffällige identifiziert, dann ist allen klar: In keinem Beruf arbeitet ein Drittel potenziell betrügerisch. Ich gehe von einem bis zwei Prozent aus, die tatsächlich betrügen; der Rest hat einfach den «Fehler» gemacht, «nur» die Patienten zu behandeln, nicht immer auch den Index.
Wie gewichtig ist das Problem der «Überarztung» nach Ihrer Einschätzung? Ob zahlenmässig (in der Anzahl der Fälle) oder ökonomisch, in der Summe?
Das Problem wird von den Versicherern überschätzt, aus dem einfachen Grund, dass ihre Kernkompetenz in der Bürokratie liegt. Dass ein Drittel der Behandlungen unnötig seien, dieses Märchen haben wir vom VEMS mit einer einfachen Anfrage an das BAG bereits vor Jahren demaskiert. Gemäss BAG werden rund 30 Prozent der OKP-Kosten als «Effizienzreserven» bezeichnet.
«Die Medizin hat ein bewährtes Mittel zur Eindämmung der Kosten: Prävention der Krankheiten.»
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Übersichtsarbeit aus dem JAMA geht für das US-Gesundheitswesen von 25 Prozent Effizienzreserven aus, wovon 31 Prozent durch Overheadkosten verursacht werden; derweil wurden Betrug («fraud») auf 8 Prozent, Überbehandlung («overtreatment») auf 10 Prozent und medizinische Unterversorgung («failure of delivery») auf 16 Prozent geschätzt. Das Problem liegt also dort, wo es die Krankenkassen nicht sehen wollen: in der überbordenden Bürokratie, die sie selbst mit verursachen.
Die ganze Thematik ist letztlich nur ein Rädchen im grossen Gefecht gegen steigende Gesundheitskosten. Wo würden Sie vor allem ansetzen in diesem Kampf?
Die Medizin hat ein bewährtes Mittel zur Eindämmung der Kosten: Prävention der Krankheiten. Anstatt die Präventionsmedizin zu stärken, baut man aber gerade dort ab und meint das Problem lösen zu können, indem man mit einer untauglichen Methode nicht Krankheitsprävention fördert, sondern Prävention der Behandlungen durch Einschüchterung der Ärztinnen und Ärzte betreibt.
Ein neues Bundesgerichtsurteil zu den WZW-Verfahren
Weil ihn das Schiedsgericht des Kantons Bern zur Rückzahlung von gut 750'000 Franken verurteilt hatte, gelangte ein Arzt vors Bundesgericht. Er verlangte, dass die Versicherer ihre Rückforderungen nicht (fast) ausschliesslich mit statistischen Auffälligkeiten begründen sollten, sondern auf einer systematischen Prüfung seines Falls. In seinem Urteil vom 12. Dezember 2023 gab das Bundesgericht dem Arzt weitestgehend Recht: Es genüge nicht, einem Arzt durch statistische Methoden vorzurechnen, dass er seine Patienten zu aufwändig und damit zu teuer behandelt (womit er sich womöglich ein unstatthaftes Gehalt verschafft hat). Sondern zwingend nötig dafür sei «eine komplette Einzelfallprüfung».
Mit anderen Worten: Wenn die Krankenkassen Geld zurückfordern wegen Überarztung, dann müssen sie diese Überarztung auch ganz konkret belegen können. Statistische Auffälligkeiten mit nachfolgender Beweislast-Umkehr genügen nicht.