Coronavirus: «Chefarzt Vernazza erzählt Stuss»

Ein Interview mit dem bekannten Infektiologen Pietro Vernazza gibt Anlass zu Diskussionen. Auch Matthias Egger von der Covid-Taskforce kritisiert den Chefarzt indirekt.

, 20. Juli 2020 um 07:47
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Pietro Vernazza ist ein ruhiger, abgeklärter und sehr erfahrener Mediziner. Der 63-jährige Chefarzt der Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen (KSSG) hat bereits Epidemien wie Sars, Rinderwahn, Schweine- und Vogelgrippe erlebt. Er hat schon vieles erreicht, grosse Karrierepläne verfolgt er nicht mehr. Unter anderem gilt er als international anerkannter HIV-Spezialist. Und auch zur aktuellen Corona-Pandemie hat sich der Arzt immer wieder differenziert zu Wort gemeldet. 
In einem aktuellen Interview mit der «Sonntagszeitung» (Artikel bezahlpflichtig) spricht Pietro Vernazza über eine Alternative zur aktuellen Strategie gegen das Coronavirus: Eine Reduktion der Schutzmassnahmen in der breiten Bevölkerung. So komme die junge Bevölkerung nach und nach mit dem Virus in Kontakt. Für ihn ist auch klar: Das Virus scheine weniger gefährlich als gemeinhin vermutet. 
Chefarzt Vernazza empfiehlt aber nichts: «Zunächst sollten wir die Optionen gründlich diskutieren», hält er fest. Er zeige einfach auf, dass eine «differenzierte Durchseuchung» eine Alternative zur heutigen Ausrottungsstrategie des Bundes sei. Das Virus werde wohl bei uns bleiben: «Wir müssen lernen, mit dem neuen Virus zu leben».

Diskussion um die Sterblichkeit geht weiter

Gewisse Aussagen im Interview stossen aber auf Ablehnung. Ein Journalist von Tamedia schreibt, dass der Chefarzt «Stuss» erzähle, was zu einem Wortgefecht auf der Nachrichtenplattform Twitter führt. Es gebe weltweit keine einzige Studie, welche auf eine Infection Fatality Rate (IFR) von 0.1 Prozent  komme. Was der Infektiologe erzähle, entbehre jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Der Journalist bezieht sich dabei auf Vernazzas Annahme, dass die Sterblichkeit von Covid-19 eher bei einem Promille sei als bei einem Prozent. Denn heute wissen wir, dass 90 Prozent der Infizierten gar nie diagnostiziert wurden, wie der St. Galler Mediziner sagt.

Pietro Vernazza erhält auch viel Zuspruch

Professor Vernazza bezeichnet im Interview die Containment-Strategie des Bundes zudem als «ambitiös». Es sei aufwendig und teuer, die hohen Sicherheitsmassnahmen über eine lange Zeitdauer aufrechtzuerhalten. Denn man müsse jeder möglichen Infektion nachgehen. Und die Wahrscheinlichkeit sei gross, dass eine Impfung gerade bei älteren Menschen kaum nütze. 
Pietro Vernazza ist schliesslich aber zufrieden, was die Schweiz im internationalen Vergleich bisher erreicht habe. Für ihn macht auch die wissenschaftliche Taskforce des Bundes einen guten Job. Er finde aber, sie dürften nicht in den Medien auftreten: «Sie sollte dem Bundesrat dienen». Auch Vernazza, der an vorderster Front im Kampf gegen das neue Coronavirus steht, wurde für das Expertengremium angefragt, später dann aber wieder ausgeladen.  
Brisant ist in diesem Zusammenhang: Auch Matthias Egger, der Präsident der Corona-Taskforce, versieht den «Stuss»- Tweet des Tamedia-Journalisten mit einem «Gefällt mir». Er erwähnt zwar in seinem Profil, dass «Likes» nicht einer «Befürwortung» entsprechen. Trotzdem bringt der Epidemiologe und Nationalfonds-Präsident damit seine Haltung zum Ausdruck - und kritisiert den Mediziner indirekt. Andere wiederum loben den St.Galler Infektiologen auf Twitter und finden, dass die Diskussion um eine machbare dauerhafte Lösung nun endlich geführt werden müsse.
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