Zu Besuch bei Viktor-Gewinnerin Chantal Britt

Seit vier Jahren leidet die Präsidentin von Long-Covid-Schweiz unter postviralen Beschwerden. Was sie am meisten stört: Dass die Krankheit nicht ernsthaft erforscht wird.

, 3. April 2024 um 05:07
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Chantal Britt, Präsidentin von Long Covid Schweiz, vor der Berner Fachhochschule, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist. | Bild: cch
«Treppe oder Lift?», fragt Chantal Britt. «Lieber Treppe», meint der Journalist und denkt nicht daran, dass die ehemalige Marathonläuferin an Long Covid erkrankt ist. Sie kommt dann nach drei Stockwerken ziemlich ins Atmen.
Wir sind an der Fachhochschule in Bern. Vor drei Wochen wurde die 55-Jährige als Präsidentin von Long Covid Schweiz an der Viktor-Preisverleihung als «Herausragendste Persönlichkeit» im Schweizer Gesundheitswesen prämiert. Nominiert waren neben ihr Spitaldirektoren, Chefärztinnen, Krankenkassenmanager.

Über 300'000 Personen

Warum gerade sie? Sie ist gut vernetzt. Als Gründerin und Präsidentin von Long Covid Schweiz vertritt sie über 300'000 Personen, die ihren Alltag zum Teil nicht alleine meistern können, keine medizinische Unterstützung bekommen und in Vergessenheit geraten. Zudem ist ihre Auszeichnung auch aussergewöhnlich, weil sie als Patientenvertreterin nicht offiziell Teil der Gesundheitsbranche ist.
Und ja: Es geht nicht nur um Long-Covid. «Hört auf mit dem Begriff Long-Covid», war kürzlich hier zu lesen: «Natürlich gibt es das Syndrom. Aber laut einer neuen Studie unterscheidet es sich nicht von anderen postviralen Leiden».

Journalistin bei «Bloomberg»

Das sieht auch Chantal Britt so, die einst bei «Bloomberg» als Biotech- und Pharmajournalistin arbeitete. Das Kürzel zur Erkrankung heisst ME/CFS - Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom.
Menschen mit dieser Krankheit sind in ihren Funktionen eingeschränkt und nicht in der Lage, ihre gewohnte Aktivität auszuüben. Im schlimmsten Fall sind sie ans Bett gebunden. Typische Symptome sind Post-Exertionelle Malaise, Schlafstörungen, Schmerzen und kognitive Störungen.
Aber sie sehen nicht krank aus. Ihre Beschwerden lassen sich mit schulmedizinischen Methoden nicht beweisen. Deshalb haben sie gemäss hiesigem Recht kein Anspruch auf IV-Leistungen.
«Es gibt hierzulande zwischen 16’000 und 24’000 Betroffene, denen ein würdiges Leben unmöglich ist»: So steht es auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für ME&CFS (SGME), die 2019 im Kanton Zürich als gemeinnützige Institution gegründet wurde. Als Folge der Covid-Pandemie dürften nun weitere 300'000 Personen ähnliche Symptome aufweisen.

ME/CFS: Schon gehört?

«Bevor ich mich mit dieser Sache zu beschäftigen begann, hatte ich noch nie von ME/CFS gehört», sagt die ehemalige Biotech- und Pharmajournalistin. Auch im Medizinstudium werde darüber nichts gelehrt. Eine eben erst promovierte Assistenzärztin, die der Autor dieser Zeilen persönlich kennt, bestätigt dies.
Noch weiss man nicht viel. Aber man weiss, dass ME/CFS und Long-Covid ähnliche neurokognitive, autonome und immunologische Symptome aufweisen: Belastungsintoleranz, orthostatische Intoleranz, Dysautonomie. «Das autonome Nervensystem, welches Atmung, Stoffwechsel oder Verdauung reguliert, funktioniert nicht mehr», sagt Chantal Britt.
«Die Schweiz hat es verpennt, dies bei ME/CFS genauer zu untersuchen. Man weiss nichts darüber, hat nie Daten erhoben, weiss nicht, wie viele Leute betroffen sind.»
Und weiter: «Es gibt keine Ärzte; es gibt keine Versorgung; es gibt keine Guidelines, wie man ME/CFS diagnostiziert und behandelt und wie man die Menschen versorgen kann.»

Die Deutschen sind voraus

In Deutschland ist das anders. An der Charité in Berlin gab es schon vor der Pandemie ein Fatigue-Zentrum, in dem sich Fachpersonen auf postvirale Beschwerden spezialisiert hatten und Kohorten für die Forschung gebildet haben.
Auch hat Deutschland um die 200 Millionen Euro gesprochen für die Forschung von Long-Covid und ME/CFS.
Seit vier Jahren leidet Chantal Britt nun unter solchen Symptomen. Ihren Job als Kommunikationsfachfrau hatte sie verloren. Nun arbeitet die Mutter von drei Teenagern mit einem 60-Prozent-Pensum als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berner Fachhochschule. Ihr Gesundheitszustand hat sich in all den Jahren nicht verändert.

Betablocker und Blutverdünner

Beim Treppensteigen kommt sie bald ausser Atem. Sie hat Muskelschwäche, keinen erholsamen Schlaf. Und wenn sie sich mal etwas anstrengen muss, folgt zwei Tagen später ein Crash, indem sich die Symptome weiter verstärken. Sie nimmt Betablocker gegen Herzrasen und Blutverdünner für die Durchblutung. So kommt sie durch den Tag.
«Frau Britt, was ist Ihr Hauptanliegen in einem Satz?» Die 55-jährige überlegt nicht lange: «Dass man postinfektiöse Erkrankungen erforscht, dass man versucht, sie adäquat zu behandeln, dass man die Leute unterstützt, die von diesen Krankheiten betroffen sind.»

BAG sieht kein Problem

Ende November 2023 stellt der Bundesrat in einem Bericht fest, «dass in der Schweiz ein breites Angebot für Betroffene der Post-Covid-19-Erkrankung besteht. Das Gesundheitsversorgungssystem hat rasch auf das Auftreten von Langzeitfolgen nach Covid-19 reagiert und es gibt ein gut ausgebautes Netz an spezialisierten Angeboten zur Abklärung und Behandlung der Erkrankung.»
Zudem steht im Bericht, die Forschung liefere wichtige Erkenntnisse und helfe gemeinsam mit dem landesweit vorhandenen Fachwissen, die Versorgung der Betroffenen laufend zu verbessern.

Britt war schockiert

Was Chantal Britt von diesem Bericht hält, erklärte sie schon am 22. Dezember 2023 auf Radio SRF: «Wir sind schockiert über diesen Bericht. Er spielt die Schwere und die Bedeutung dieser Erkrankung so herab.» Es fehle die Anerkennung. Bei den Sozialversicherungen und bei der Ärzteschaft gebe es Probleme. Es werde nicht geforscht.
Wenn also der Bundesrat von einem «breiten Angebot» spricht, so sei an das Beispiel des Kantonsspital Graubünden erinnert. Dort führte Gregory Fretz als Leitender Arzt der Polyklinik eine Sprechstunde für Menschen mit Long Covid. Die Klinik wurde überrannt, und das Angebot musste gestrichen werden – mangels Personal und wegen des hohen Aufwands. So werden nun die Betroffenen an die Hausärzte verwiesen, die aber mit der Situation überfordert sind.
Im genannten Bericht empfiehlt der Bundesrat den zuständigen Akteuren auch Massnahmen, um die Lücken in den Bereichen Information und Evidenz, Diagnose und Behandlung sowie Versorgung und Finanzierung zu beheben und die Versorgung auch in Zukunft sicherzustellen.

Den Ball den Kantonen

Es sei zu einfach, so Chantal Britt, den Ball den Kantonen zuzuspielen. «Es braucht Geld für die Forschung. Das ist Sache des Bundes.» Die gelebte Erfahrung der Betroffenen und ihrer behandelnden Ärztinnen und Therapeutinnen spiegle die Aussagen des BAG in keiner Weise, sagt Chantal Britt im Gespräch mit Medinside.
Statt also selber aktiv zu werden, verweist das BAG bei Anfragen auf die Selbsthilfe-Organisationen Long-Covid Schweiz, SGME oder an den Verein Association ME/CFS Suisse, wo Betroffene und Angehörige ehrenamtlich arbeiten. Je nach Standpunkt könnte man das fast schon als zynisch bezeichnen.
Chantal Britt in der Santémedia-Sendung «Praxis Gsundheit» auf «TeleBärn».

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