Immer mehr Spitäler reduzieren die Arbeitszeit ihrer Assistenz- und Oberärzte und wechseln auf das 42+4-Modell: Zuletzt kündigten das
Kantonsspital Winterthur und der
Tessiner Spitalverbund EOC an, dass ihre Nachwuchsmediziner künftig 42 Wochenstunden mit klinischer Arbeit und 4 Stunden mit strukturierter Weiterbildung befasst sein werden.
Was die einen freut, stösst insbesondere in der Chirurgie auf Kritik. Das Modell 42+4 verursache absehbar Kompetenz- und damit Versorgungslücken in der Chirurgie und ihren Subspezialitäten sowie der Hochspezialisierten Medizin, schreibt der Chirurg Othmar Schöb in einem LinkedIn-Beitrag; und der Vorstand der Chirurgengesellschaft des Kantons Zürich doppelt im «Bulletin der Chirurgengesellschaft Kanton Zürich und Schaffhausen» nach: Bereits heute seien «inakzeptable Kompetenzlücken entstanden», so Schöb.
«Die Stimmung in der Chirurgie ist bei denen, die weiterkommen möchten, klar gegen die 42+4 Regelung.»
Es fehle am Willen, das Problem zu erkennen und aktiv zu bekämpfen. Ein öffentlich dringend notwendiger Disput werde bewusst nicht geführt, «alle verstecken sich hinter angeblich unüberwindbaren gesetzlichen Hürden».
Wer mehr als 42+4 Wochenstunden vertrete und auch mehr leisten möchte, werde abgesägt, werde als «hinterwäldnerisch» bezeichnet.
Schöb plädiert dafür, dass man jenen Assistenzärzten, die mehr leisten und auch weiterkommen wollen, keine gesetzlichen Hindernisse in den Weg legt – wie dies heute der Fall sei.
«Die Stimmung in der Chirurgie ist bei denen, die weiterkommen möchten, klar gegen die 42+4 Regelung», sagt Schöb gegenüber Medinside: «Man will Freiheiten in der Planung der Karriere und keine absurden gesetzlichen Hürden.»
Keine chirurgische Spitzenmedizin
Für Othmar Schön ist klar, dass mit dem Prinzip 42+4 keine Spitzenmedizin in der Chirurgie mehr betrieben werden kann. Es sei nicht möglich, das Training, welches man benötigt – etwa 10‘000 Stunden operative Tätigkeit, um in den geforderten Kompetenzbereich zu gelangen -– einzig und allein einer Einhaltung von Arbeitszeitregelungen zu unterjochen. «Der Schiffbruch ist vorprogrammiert und hat bereits breitflächig eingesetzt», warnt er.
Enttäuscht zeigt sich Schöb von den Chefärzten, Fachgesellschafts-Vorständen und den Spitälern – respektive darüber, dass diese nicht mehr Mut aufbringen, «diejenigen zu fördern, die freiwillig und aus Lust und Interesse Extrameilen machen wollen.»
Es müsse möglich sein, straffrei sowohl für Weiterbildner wie auch für Weiterbildungskandidaten mehr als 42+4 arbeiten zu können – und de facto uneingeschränkt.
VSAO «irritiert»
Die Vorwürfe zielen vor allem auf den Verband Schweizer Assistenz- und Oberärzte (VSAO) ab. Und dieser zeigt sich irritiert, schliesslich wurde im vergangenen Juli eine Task Force zwischen der kantonalen Chirurgengesellschaft CGZH und dem VSAO gegründet, um
die Arbeits- und Weiterbildungsbedingungen in der Chirurgie zu verbessern. Ziel: Gemeinsam sollen konkrete Massnahmen erarbeitet werden, um Lösungen im bekannten Dilemma zwischen (zu) langen Arbeitszeiten, (zu) wenig Nachwuchs und dem grossen Bedarf an Aus- und Weiterbildung zu erarbeiten.
«Für den VSAO vermittelt das Interview ein einseitiges und polarisierendes Bild, das die bisherigen gemeinsamen Anstrengungen in der Taskforce untergräbt», schreibt der Verband an die Chirurgengesellschaft – und äussert grundlegende Zweifel an der weiteren Zusammenarbeit:
«Wir müssen ganz offen infrage stellen, wie sinnvoll eine weitere Zusammenarbeit mit der CGZH ist, wenn grundlegende Prinzipien wie professionelle Kommunikation und gegenseitiger Respekt nicht eingehalten werden. Uns auf diese Weise öffentlich in den Rücken zu fallen, ist weder konstruktiv noch respektvoll.»
Weshalb der Hirslanden-Chirurg an die Öffentlichkeit gegangen ist? «Ich habe bewusst nochmals ein Interview gegeben, weil ich es nicht aushalte, dass man das Problem nicht löst und eine Fehlprojektion auf die Arbeitsstunden konstruiert, was politisch natürlich viel besser verkäuflich ist».
Letztlich werde das Problem verschlimmert und keinesfalls gelöst, «ich wehre mich gegen diese Fehlmanipulation und möchte mit unserem Beispiel auch zeigen, dass es anders geht», so Schöb.
Im Januar 2024
schilderte ein junger Chirurg seine Erfahrungen gegenüber Medinside: «Ich will vorwärtskommen und Extrastunden leisten - aber man lässt mich nicht. Haben wir Assistenzärzte die zugelassene Arbeitszeit erreicht, müssen wir den Operatiossaal verlassen. Es ist absurd – damit wir operieren und weiterkommen können, drehen wir illegale Dinge. Etwa dass wir uns ‘ausbadgen’ und danach weiteroperieren. Niemanden interessiert es.»