Die Digitalisierung im Gesundheitswesen schreitet rasch voran. Für die IT-Organisation in Spitälern und Kliniken ist das eine grosse Herausforderung: Die Anforderungen an die Spitalinformatik entwickeln sich rasant weiter. Die digitale Transformation hat zur weit verbreiteten Nutzung von Gesundheitsinformationstechnologien wie beispielsweise Klinikinformationssystemen (KIS) geführt.
Wir haben bei verschiedenen Schweizer Spitälern nachgefragt, wie es um ihre KIS-Systeme steht.
Unzufriedenheit mit dem IT-System
KIS sind zentrale Speicher für Gesundheitsinformationen und sie sind die Basis für klinische Entscheidungen sowie elektronische Verordnungen.
Laut dem Swiss e-Health Barometer 2021 arbeiten nahezu alle Schweizer Spitalärztinnen und -ärzte (91 Prozent) mit einem elektronischen System, von 83 Prozent werden Medikamente routinemässig elektronisch verordnet.
In der Befragung zeigt sich jedoch: Nur 52 Prozent der Ärztinnen und Ärzte sind mit ihrem IT-System zufrieden. Die Unzufriedenheit liegt grösstenteils daran, dass die Funktionalität nicht ausreicht. Es sei ausserdem zu kompliziert und zu langsam, heisst es im eHealth-Barometer.
Der zunehmende Druck der neuen Erwartungen widerspiegelt sich also in der Unzufriedenheit der Spitäler. Die Bewegungen und Neuausschreibungen im Schweizer KIS-Markt sind «frappant», schreibt zum Beispiel das Schweizer Beratungsunternehmen PWC.
Inselspital zählte auf 60 Arbeitsgruppen
In der Insel Gruppe in Bern wird zurzeit ein neues KIS-System eingeführt. Das Hauptprojekt zur Einführung des neuen Klinikinformations- und Steuerungssystem Epic ist im Januar 2022 gestartet und läuft noch bis Ende 2024. Zu den grössten Herausforderungen gehören laut dem Inselspital die vielschichtige Planung, aber auch die Standardisierung. «Vor der Einführung von Epic gab es ein knapp zweijähriges Vorprojekt, in dem gemeinsam mit Vertretungen aus den Fachbereichen in über 60 Arbeitsgruppen die Prozesse sowie Datenobjekte bereinigt und harmonisiert wurden», schreibt die Gruppe gegenüber «Inside IT».
Es habe sich klar gezeigt, dass individuelle Besonderheiten die Systeme komplizierter machen. Standardisierung hingegen würde vieles vereinfachen. «Standardisierung bedeutet aber auch, alte Gewohnheiten loszulassen – bislang haben viele Fachbereiche ihre klinische Dokumentation selber organisiert. Das bringt einen bedeutenden Kulturwandel mit sich.»
Werden diese Systeme inadäquat konzipiert, entwickelt, implementiert und angewendet, kann es zu unerwünschten Folgen kommen, heisst es in einer von der «Schweizerischen Ärztezeitung» publizierten Studie. So kämpfen Ärztinnen und Ärzte etwa mit zusätzlicher Arbeit, die Arbeitsabläufe werden erschwert und neue Arten von Fehler können passieren, was wiederum zu Problemen bei der Patientensicherheit führen kann. «Die Herausforderungen liegen bei uns primär im Bereich der Integration der nach wie vor notwendigen Spezialsysteme sowie in den unterschiedlichen Prozessen in den Kliniken», erklärt uns beispielsweise Michael Stahlberger, Leiter IT-Department beim Kantonsspital St. Gallen.
Systeme werden häufig zweckentfremdet
Das Gesundheitswesen hat noch immer mit KIS-Systemen zu kämpfen. Unter anderem, weil sie häufig zweckentfremdet werden: Kliniken nutzen diese Systeme oft noch nicht, um einzelne Prozessschritte aufeinander abzustimmen und zu kontrollieren, sondern lediglich zur digitalen Dokumentation.
So sieht es auch beim Kantonsspital St. Gallen aus: «Die KIS-Systeme sind heute schwerpunktmässig auf die medizinische Dokumentation ausgerichtet», bestätigt Stahlberger. «Gerade vor dem Hintergrund der schwierigen personellen wie auch finanziellen Situationen der Spitäler sollten die KIS-Systeme aber einen stärkeren Fokus auf ein durchgängiges integrales (prospektives) Kapazitäts- und Ressourcenmanagement legen.» Dies werde heute aber wohl von keinem KIS vollumfänglich abgedeckt.
Die Folge sind unpraktische und klinikfern abgebildete Abläufe, die zwischen digitalen und analogen Prozessschritten wechseln, ohne die Informationen der einzelnen Teilprozesse vollständig abzubilden.
Auch das Kantonsspital Aarau hat teilweise mit diesem Manko zu kämpfen. Die Systeme sind laut Digitalisierungs- und ICT-Leiter Thomas Seiler eher funktional als prozessual aufgebaut.
Die Berner Insel Gruppe sieht sich vor demselben Problem. Ihre Systeme sind auf mehreren Ebenen vernetzt, erlauben jedoch keine durchgängigen Prozesse. «Aktuell haben wir an der Insel Gruppe viele, nicht miteinander vernetzte Lösungen für die klinische Dokumentation, die auch historisch gewachsen sind», heisst es.
Das KIS der Zukunft
Laut PWC ist die Zukunft der KIS das Konzept «Mobile Health». Doch dafür müsste die bereits bestehende Infrastruktur weiterentwickelt werden. Für eine solche Entwicklung müssen Anwender und Anbieter gemeinsam daran arbeiten. Die meisten aktuell laufenden Systeme seien technologisch veraltet und würden wenig bis gar keine Möglichkeiten bieten, moderne Technologien sinnvoll und gewinnbringend einzubinden, geschweige denn Daten strukturiert und einfach auszuwerten.
Für das Kantonsspital Aarau wäre hier auch eine verstärkte Kooperation mit Startups gewinnbringend. «So kann man Innovationen im KIS umsetzen und neue Technologien schneller entwickeln», sagt CIO Thomas Seiler.
2021 konnten
in einer Studie für die Schweiz erstmals Daten zur Fehleranfälligkeit und Effizient von gängigen KIS erhoben werden. «Die Resultate sind besorgniserregend», heisst es darin. Auch wenn nicht alle Fehler im KIS direkt zu Patientenschäden führen, können die Studienautoren dennoch eines schlussfolgern: Die derzeitigen KIS machen den Arbeitsalltag komplexer, führen zu einem schlechten Management von Patientensicherheitsrisiken und zu einer deutlichen Mehrbelastung beim Gesundheitspersonal. Es müsse sich also dringend etwas ändern.
«Wünschenswert wäre, dass die nationalen Standards für den Datenaustausch schneller und verbindlicher durchgesetzt werden», meint Stahlberger aus St.Gallen. Auf die Frage, was die Branche tun kann, um die KIS-Systeme hierzulande zu verbessern, heisst es: «Direkt sind die Handlungsmöglichkeiten sicher beschränkt.» Es zeige sich aber, dass es in den Schweizer Spitälern zu einer starken Konsolidierung der Systeme kommt und sich mittelfristig nur zwei bis drei Systeme in mittleren und grösseren Häusern bestätigen können. «Dadurch werden wohl auch die Anforderungen besser kanalisiert werden, sodass es zu einer besseren Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Schweizer Spitäler kommen wird.»