In der Schweiz hat der Arztberuf ein
hohes Ansehen. Dennoch mangelt es landesweit an Nachwuchs.
Studenten, die zwölf Semester gebüffelt, mehrere Praktika und das Staatsexamen bestanden haben, dürfen danach als Asstistenzärztin oder Assistenzarzt in einem Spital arbeiten.
Das tat Julian Krämer, dessen Kindheitstraum, Arzt zu werden, dann aber platzte. «Ich hätte für diesen Beruf alles aufgeben müssen», wird er von der
«NZZ» (Abo) zitiert. Krämer hängte seinen Traumjob wegen schlechten Arbeitsbedingungen, der Bürokratie und dem Stress im Arztberuf an den Nagel.
Umfrage untermauert Kritik
Mit seiner Kritik ist Krämer laut der «NZZ» nicht allein. Die Redaktion sprach in den letzten Monaten mit mehr als einem Dutzend jungen Zürcher Ärztinnen und Ärzten, die von ähnlichen Erfahrungen berichteten. Ihr Fazit: Ändere sich nichts, bekomme das Schweizer Gesundheitssystem ernsthafte Probleme.
Diesen Befund bestätigt eine Umfrage der «NZZ» von Ende Dezemeber 2022. 4500 Assistenzärztinnen und Assistenzärzte nahmen daran Teil; das ist rund ein Drittel aller 13'000 Assistenzärzte des Landes.
Erschreckendes Ergebnis
Die Resultate der Umfrage sind bedenklich: «Sie zeigen, dass die Assistenzärzte einer immensen Belastung ausgesetzt sind, dass die Qualität ihrer Ausbildung sinkt und dass die Spitäler mutmasslich systematisch gegen das Arbeitsgesetz verstossen», schreibt die «NZZ».
Das wirkt sich nicht nur negativ auf die Ärztinnen und Ärzte aus, die unter der Situation leiden: Wegen der Überlastung steigt auch das Risiko für Fehler an Patienten. Ebenso leidet das Gesundheitswesen, weil immer mehr junge Ärzte ihren Job verlassen.
Übermüdung und Fehler
Die wichtigsten Ergebnisse der Umfrage sind:
- Fast 40 Prozent der Assistenzärzte geben an, mehr als elf Stunden pro Tag zu arbeiten. Hauptgründe sind: die hohe Arbeitslast und die Bürokratie. (Gemäss Arbeitsgesetzt darf nur in Ausnahmefällen mehr als 50 Stunden pro Woche gearbeitet werden.)
- Drei Viertel der befragten Assistenzärzte geben an, weniger als 30 Minuten Mittagspause zu machen. Die Hälfte der Befragten macht 15 bis 30 Minuten Mittagspause. (Das Arbeitsgesetzt schreibt vor: Ab einem Einsatz von 7 Stunden muss die Mittagspause mindestens eine halbe Stunde betragen, bei 9 Stunden Arbeit eine ganze Stunde.)
- Vier von fünf Assistenzärzten geben an, wegen Übermüdung schon Fehler gemacht zu haben.
- Die Mehrheit der Assistenzärzte bekommt nicht die ihnen zustehende Weiterbildung angeboten.
Hplus dementiert
Die «NZZ» konfrontierte den Schweizer Spitalverband Hplus mit den Umfrage-Ergebnissen. Anne Bütikofer, Direktorin, wehrte sich gegen den Vorwurf, die Spitäler würden systematisch Höchstarbeitszeiten missachten und ihrem Ausbildungsauftrag nicht nachkommen: «Eine Blitzumfrage von Hplus bei den Spitälern und Kliniken ergab, dass diese Darstellung nicht stimmt.»
Wie Bütikofer erklärt, würden die Spitäler das Arbeitsgesetz grundsätzlich einhalten. «Das zeigen die Kontrollen der Arbeitsinspektoren», so Bütikofer.
Es könne zu Überschreitungen der wöchentlichen Höchstarbeitszeit kommen. «Ein Spital ist ein 24-Stunden-Betrieb, und wenn Patienten krank werden und Hilfe brauchen, kann man, zumindest im Notfall, nicht planen.»
Hinzu komme, dass die Spitäler unter enormen Druck seien. «Die Politik will die Kosten senken, erlässt aber gleichzeitig immer mehr Auflagen und Regelungen, welche den Spitälern jegliche Effizienz rauben», sagt sie gegenüber der «NZZ».
Herzchirurg verteidigt die langen Arbeitszeiten im Spital
In einem Interview mit der
«NZZ» (Abo) nimmt der ehemalige Leiter Herzchirurgie am Universitätsspital Zürich (USZ), Paul Vogt, Stellung zu diversen Themen betreffend das Gesundheitssystem. Auf die Frage, ob die Bürokratie an der hohen Arbeitslast der Assistenzärztinnen und Assistenzärzten schuld sei, antwortet er:
«Sie ist der Hauptgrund. Gleichzeitig muss die Anzahl Studienplätze weiter erhöht werden.» Der Numerus clausus sei ein absoluter Schwachsinn, der viel Geld koste, das man besser in Studienplätze investieren würde. «Was die Arbeitslast betrifft, gibt es grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Fachbereichen.» In der Herzchirurgie beispielsweise müssen man möglichst oft im Operationssaal sein – wenn nötig auch ausserhalb der offiziellen Arbeitszeit.
«Die Resultate sind nicht schlechter, wenn man eine Nacht lang durchoperiert. Die Konzentrationsfähigkeit nimmt nicht ab. Medizinjobs sind nun einmal keine Bürojobs.»
Dass die Schweizer Spitäler systematisch das Arbeitsgesetzt brechen, sieht Vogt anders. Wer arbeiten wolle, den solle man arbeiten lassen. «In der Chirurgie macht es keinen Sinn, die Arbeitszeit zu beschränken. Das ist, wie wenn man einem Pianisten sagen würde: Spiel auf Weltklasseniveau, aber halte dich beim Üben an die Bürozeiten.»
Was die Überarbeitung und Fehler betreffe, so gebe es zahlreiche Studien, die das Gegenteil beweisen würden. «Die Resultate sind nicht schlechter, wenn man eine Nacht lang durchoperiert. Die Konzentrationsfähigkeit nimmt nicht ab. Medizinjobs sind nun einmal keine Bürojobs.»
Fakt sei: Wer mehr arbeitet, lerne auch mehr – gerade in der Chirurgie. Das Argument, man könne nicht 60 oder 70 Stunden arbeiten, sei nicht durch Fakten gestützt.