Es sind in erster Linie «alte» Medikamente für chronische Erkrankungen: zum Beispiel Medikamente gegen Epilepsie, gegen Parkinson, gegen psychiatrische Erkrankungen, Blutdrucksenker, Cholesterinsenker und ganz aktuell viele Medikamente zur Behandlung kranker Kinder. Das sind in der Regel eben nicht jene, die das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) auf seiner Liste führt, aber deshalb nicht minder wichtige.
Der deutsche Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat kurz vor Weihnachten 2022 ausgesagt, dass man das Thema Versorgung nun dringend angehen müsse. Die Lage sei so nicht mehr hinnehmbar. In Österreich, Frankreich und Italien machen die Parteien diverse Vorschläge, wie man die Situation verbessern könnte. Belgien, Holland und die skandinavischen Länder stehen punkto Lieferengpässe besser da als wir – ganz im Gegenteil. Aber sie haben Konzepte entwickelt, um die Leistungserbringer in der Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten zu unterstützen. In der Schweiz dürfen die Leistungserbringer das Problem alleine ausbaden und die Mehrkosten selber tragen. Die Schweiz ist zwar an grundsätzlichen Strategien dran, hat aber Chancen verpasst, das viel früher zu regeln. Was nicht sein darf, findet nicht statt, das war die bisherige Philosophie.
Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit diesem Thema. Dabei habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass bei uns immer der andere zuständig ist: Der Bund gibt die Verantwortung den Kantonen, weil diese gemäss Verfassung für die Gesundheitsversorgung zuständig sind. Die Kantone können nichts tun, weil der Bund die Rahmenbedingungen setzt und ja eigentlich das BWL zuständig ist. Das BWL wiederum sagt, dass primär die Wirtschaft zuständig sei uns sie nur für die gravierenden Mangellagen mit lebenswichtigen Arzneimitteln Verantwortung übernehmen. Und letztendlich macht das Bundesamt für Gesundheit (Abteilung Krankenversicherung) Verordnungsvorschläge, die aufzeigen, dass sie die Thematik überhaupt nicht verstehen. Und dann gibt’s noch die Kassen, die finden, die Industrie jammere auf hohem Niveau und man dürfe das Thema ruhig ignorieren oder man könne eh nichts tun, weil’s ein internationales Problem sei. Das lästige Thema Versorgung nach dem Prinzip Hoffnung.
Und jetzt?
Wir Leistungserbringer möchten Patientinnen und Patienten nach aktuell gängigen Erkenntnissen auf die beste Art und Weise therapieren. Dieser Satz kommt an erster Stelle. An zweiter Stelle kommt der Satz, dass das zu möglichst geringen Kosten erfolgen soll. In all den aktuell diskutierten Ansätzen zur Reform des Gesundheitswesens sehe ich fast ausschliesslich die umgekehrte Reihenfolge. Zuerst senken wir die Kosten und dann schauen wir mal, ob und was wir noch therapieren können. Dabei wird bei den Medikamenten undifferenziert bunt gemischt mit alten und neuen, hochteuren und billigen, alles im gleichen Topf. Es ist einfach zu teuer und basta. Preise sind in der Schweiz eh zu hoch. Dem Grundlegendsten wird jedoch keine Beachtung geschenkt oder auf die Hoffnung abgestellt, dass die Industrie ja dann schon mitzieht. Dass sie das eben an einem bestimmten Punkt nicht tut, kann oder nicht will, das erleben wir gerade.
Man kann sich darüber aufregen und sich erpresst fühlen. Man könnte sich auch den Realitäten stellen und Gegenkonzepte entwickeln, statt sich mit Plattitüden das Thema vom Leib zu halten. Preis ist nicht das einzige Thema, um die Versorgung zu sichern, das ist richtig. Aber es ist ein Thema, mit dem man sich beschäftigen muss. Preisdruck braucht Rahmenbedingungen und misst sich nicht am Umsatz oder an der Anzahl der Lieferanten. Leider bin ich nicht so zuversichtlich, dass wir rasch daraus lernen. Ich find’s ein Trauerspiel, welches über den Buckel der Patientinnen und Patienten ausgetragen wird. Erkenntnis und klares Leadership fehlt völlig.
Der einzig richtige Ort die Führung im Thema zu übernehmen ist beim Bund und zwar von A bis Z!
Enea Martinelli (1965) ist Chefapotheker der Spitalgruppe Frutigen Meiringen Interlaken (FMI). Der Pharmazeut (Dr. pharm.) gilt als führender Spitalapotheker in der Schweiz und betreibt eine Webseite, die Lieferengpässe von Medikamenten dokumentiert. Martinelli war unter anderem auch Präsident der BDP des Kantons Bern und Mitglied des Kantonsparlaments.