Herr Andrey, Tarpsy, das neue Tarifsystem in der Psychiatrie, ist seit Anfang Jahr in Kraft. Ihre erste Erfahrungen?Wir hatten hier einen Lernprozess zu durchlaufen. Psychiater und Pflegefachpersonen waren es sich nicht gewohnt, Diagnosen und Behandlungen zu erfassen. Technisch sind wir à jour. Die Systeme sind programmiert, und wir können die Diagnosen mit der IT erfassen.
Mitte Januar befürchteten Sie noch Ertragseinbussen. Hat sich diese Befürchtung bestätigt?Es ist noch zu früh, um Bilanz zu ziehen. Wir haben erst etwa 40 Prozent aller Fälle kodiert. Wir konnten noch nicht auswerten, wie sich die neue Tarifierung in Franken auswirkt. Wir haben auch noch keine Rechnungsprüfungen von Seiten der Versicherer erfahren. Wir können noch nicht sagen, wo wir landen.
Haben Sie mit allen Krankenkassen einen Vertrag für die Grundversicherung abschliessen können?Mit HSK, Tarifsuisse und CSS haben wir OKP-Verträge abschliessen können. Somit haben wir alle abgedeckt. Die Krankenversicherer machten Druck und wollten möglichst schnell Verträge
«Bald sollen die Belastungsurlaube nicht mehr bezahlt werden.»
abschliessen. Früher wurden wir für Belastungsurlaube bezahlt, da auch Zimmer und das Personal immer für die Patienten zur Verfügung standen. Jetzt in der Übergangsphase nur noch reduziert und bald sollen die Belastungsurlaube nicht mehr bezahlt werden.
Haben Sie ein Beispiel?Wenn ein Patient am Freitagabend nach Hause ging und am Sonntagabend wieder einrückte, konnten wir den Samstag und Sonntag trotzdem verrechnen. In der neuen Welt des Tarpsy ist das nicht mehr möglich.
Wie sinnvoll finden Sie die degressiven Tarife, wie sie dem Tarpsy innewohnen?Wir müssen unterscheiden: Früher bekamen wir ungeachtet der stationären Zeitdauer und ungeachtet des abnehmenden Grenznutzens, welcher auch in der Medizin vorkommt, immer die gleiche Tagespauschale. Mit dem degressiven Tarif nimmt der Anreiz ab, Patienten länger als nötig zu behalten.
Das leuchtet ein, oder?Jedoch kann der degressive Tarif auch zu Fehlanreizen führen, da ein Spital am Tag x die Kosten nicht mehr gedeckt hat und eventuell trotz medizinischer Notwendigkeit sich entschliessen muss, den Patienten zu entlassen. In der Forensik hingegen sollte nicht mit einer degressiven Tarifierung wie Tarpsy, ein Anreiz zur Verkürzung der Aufenthaltsdauer erzeugt werden.
Warum?Weil die Länge des Aufenthalts vom therapeutischen Erfolg während dem Massnahmevollzug in Abhängigkeit steht.
Konnten Sie bei den Verhandlungen zum Tarpsy diesen Punkt nicht bereinigen?Wir haben das versucht. Doch die Krankenkassen stellen sich auf den Standpunkt, dass der Kanton die ungedeckten Kosten, welche durch Tarpsy entstehen, übernehmen muss.
Jean-François Andrey
vor 55 Jahren geboren, leitet seit drei Jahren die Psychiatrischen Dienste Aargau. Von 2009 bis 2014 arbeitete Jean-François Andrey bei der Lindenhofgruppe der Stiftung Lindenhof Bern, zuerst als Direktor des Lindenhofspitals, ab 2012 als CEO der Lindenhof AG mit den Spitälern Engeried, Lindenhof und Sonnenhof.
Tarpsy ist ja nur für den stationären Bereich. Wie verhält es sich mit dem Tarmed?Der zweite Tarifeingriff von Bundesrat Alain Berset schmerzt leider auch in der psychiatrischen Versorgung sehr stark. Ich denke insbesondere an die Limitationen. In der Psychiatrie muss man nun mal grosse Abklärungen durchführen - mit dem sozialen Umfeld, den Schulen, Beistände, Familiengerichte, Sozialdienste, Gemeinden, Kesb.
Können Sie den Schmerz in Franken ausdrücken?Wir verlieren als Folge des Tarifeingriffs eine Million Franken pro Jahr.
Eine Million Franken weniger Gewinn oder eine Million Franken mehr Verlust?Der ambulante Bereich schreibt schon heute rote Zahlen. Er wird nun noch rötere Zahlen schreiben.
«Im ambulanten Bereich werden uns 3 Millionen Franken fehlen.»
Was ist mit den 2 Millionen Franken, die der Kanton Aargau für die Tageskliniken respektive die sektorisierte Versorgung weniger bezahlt?Die kommen noch dazu. So werden uns im ambulanten Bereich 3 Millionen fehlen. Schon heuer haben wir vom Kanton 2 Millionen weniger erhalten. Im nächsten Jahr wird das Budget um weitere 2 Millionen gekürzt.
Und jetzt?3 Millionen Franken entsprechen in etwa 30 Stellen. Nun könnte der Eindruck entstehen, auf 817 Vollzeitstellen sei das verkraftbar. Doch die Psychiatrie ist nicht technisiert, so dass man dank dem technischen Fortschritt Stellen wegrationalisieren könnte. Das wichtigste Werkzeug in der Psychiatrie ist das Wort.
Warum spart der Kanton ausgerechnet im ambulanten Bereich?Der Kanton Aargau hatte ein strukturelles Defizit von rund 300 Millionen Franken. Wo es die gesetzlichen Grundlagen erlaubten, mussten daher Sanierungsmassnahmen über alle Departemente hinweg getroffen werden – so auch bei uns.
Und jetzt ? Aus welchem Hut wollen Sie die 3 Millionen zaubern?Wir müssen Prozesse optimieren, Strukturen anpassen, Ambulatorien und andere Angebote hinterfragen. Dann müssen wir schauen, welche Personen welche Leistungen erbringen, die wir dann auch verrechnen können. Die Leistungen der Ärzte kann man voll verrechnen, jene der Psychologen zu 50 Prozent und die Leistungen der Pflege kann man überhaupt nicht verrechnen.
Das würde ja in extremis bedeuten, dass Sie Leistungen von Ärzten erbringen lassen, die ja auch von Pflegefachleuten erbracht werden könnten.Ja, das müssen wir anschauen.
«Die Schliessung von Ambulatorien wäre ein Schritt in die falsche Richtung.»
Sie führen ein Dutzend Ambulatorien. Müssen einige geschlossen werden.Das wäre die Ultima Ratio. Wir versuchen das zu verhindern. Der einfache Zugang zu den Ambulatorien ist extrem wichtig. Der Kanton Aargau hat schon sehr früh auf Ambulant vor Stationär gesetzt. Eine Schliessung von Ambulatorien wäre ein Schritt in die falsche Richtung.
In die Richtung zu mehr Hospitalisationen?Genau - und zu Stigmatisierung und mit Bestimmtheit zu höhren Gesundheitskosten. Wir benötigen für die ambulante sektorisierte Versorgung unbedingt eine gesetzliche Grundlage und eine ausreichende Finanzierung. Ansonsten fällt die moderne Versorgung zurück ins vergangene Jahrtausend.
Fünf Jahre führten Sie mit dem Berner Lindenhofspital eine Klinik für Akutsomatik; seit knapp drei Jahren hier im Aargau eine Klinik für Akutpsychiatrie. Was ist der grösste Unterschied?Die Komplexität. In der Akutsomatik hat man vor allem mit Ärzten und Pflegefachleuten zu tun. In einer psychiatrischen Klinik auch mit Ärzten und Pflegefachleuten, daneben aber auch mit Therapeuten, Pädagogen, Sozialarbeitern, Familiengerichten, der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde, den Justizvollzugsbehörden, dem Verwaltungsgericht, der Polizei, den Berufsbeiständen.... habe ich etwas vergessen? Sie sehen, die Arbeit hier ist viel komplexer.