«Auf humanoide Roboter können wir noch lange warten»

Patric Bhend ist Geschäftsführer der Solina-Pflegeheime im Berner Oberland. Er erklärt, wo die Pflegebranche von der Digitalisierung profitieren kann, wie und wo sich Zeit einsparen liesse.

, 7. Oktober 2019 um 04:00
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Herr Bhend, Sie sagten einmal, punkto Digitalisierung befinde sich die Pflegebranche im Steinzeitalter. Kann man Pflege überhaupt digitalisieren?

Die meisten Leute haben heute eine komplett falsche Vorstellung von Technologie in der Pflege. Sie denken zuerst an humanoide Roboter. Dabei lässt sich die Pflege in ihrem ursprünglichen Sinne, also die Interaktion mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, meiner Einschätzung nach in den nächsten zwanzig Jahren nicht digitalisieren. Auf humanoide Roboter können wir noch lange warten. 

Warum?

Die menschlichen Interaktionen sind zu komplex, als dass man sie ersetzen könnte. Zumindest nicht so, dass man menschliche Wärme spürt und sich so behandelt führt. Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten zwanzig Jahren humanoide Roboter haben werden, die das Gefühl vermitteln, man stünde einem Menschen gegenüber.

Was liesse sich denn digitalisieren?

Im pflegerischen Prozess gibt es viele Tätigkeiten, die nicht mit einer Interaktion mit den Menschen verbunden sind. Viele dieser Aufgaben, die zudem weder den Bewohnerinnen und Bewohnern noch den Mitarbeitenden etwas bringen, liessen sich digitalisieren.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Bis vor zwei Jahren hat eine Fachkraft mit HF-Ausbildung vor dem Medikamentenschrank die Verordnung studiert, die Medikamente ausgedrückt und in das Schäli gelegt. Eine andere Fachperson musste danach das Ganze kontrollieren. Trotz des Vieraugenprinzips ist diese Vorgehensweise fehleranfällig. Zudem ist sie zeitintensiv. 

Und heute?

Die Ärzte erstellen heute die Verordnung direkt in der elektronischen Pflegedokumentation und anschliessend zum Apotheker. Er überprüft, ob die in der Verordnung aufgeschriebenen Medikamente auch wirklich zweckmässig sind. Eine Maschine verpackt die Medis automatisch in Beutel, so genannte Blister, die uns angeliefert werden. Unsere Mitarbeitenden müssen nebst einer kurzen Kontrolle nichts anderes tun, als die richtigen Blister der richtigen Person zu übergeben. Das ist ein enormer Zeitgewinn und wesentlich sicherer.

Aber sicher auch teuer.

Nein, der Einkauf dieser Leistung ist unterdessen ziemlich günstig.

Haben Sie andere Beispiele?

Wir haben heute Patientenheber im Einsatz. Das sind Maschinen, die beim Mobilisieren aus dem Bett helfen. Für diese Tätigkeit brauchte es früher zwei Personen mit starker Rückenmuskulatur und der richtigen Technik. Heute kann das dank der Maschine eine Person alleine bewerkstelligen. Ich könnte mir aber noch ganz andere Hilfsmittel vorstellen.

Ich bin gespannt.

Ich stelle mir vor, ich bin 80 und kann die Socken nicht mehr alleine anziehen. Meine Frau hilft mir dabei. Ich wäre der erste, der bereit wäre, eine Maschine zu kaufen, die mir morgens meine Socken über die Füsse stülpt. Das ist nichts anderes als eine einfache pflegerische Tätigkeit, die durch den Socken-Roboter ersetzt würde.

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    Patric Bhend

    lebt mit seiner Frau und drei schulpflichtigen Kindern in Steffisburg. Seit knapp sechs Jahren hat er als Geschäftsführer die operative Leitung der Stiftung Solina inne. Er verfügt über einen Abschluss als Betriebsökonom FH, ein CAS in Gerontologie sowie über ein Zertifikat als Scrum Master. Vorher war Bhend während sechs Jahren bei der Swisscom verantwortlich für ein Projekt zur Entwicklung einer Online-Applikation für Geschäftskunden und leitete später ein Team im strategischen Billing. Zudem sass er für die SP im Grossen Rat des Kantons Bern.

Das ist volkswirtschaftlich gesehen keine Revolution.

Mit weiteren solchen Geräten könnten meine Frau und ich länger ohne Spitex auskommen und kämen zu Hause trotz körperlichen Einschränkungen gut zurecht. Das könnte dereinst auf den Staatshaushalt spürbare Effekte haben.

Ihr Socken-Roboter übernimmt eigentlich eine menschliche Interaktion.

Ja, aber nicht wirklich eine Aufgabe, wo menschliche Wärme oder ein Gespräch im Vordergrund stehen.

Der Zeitgewinn mit dem Socken-Roboter dürfte sich in Grenzen halten.

Besser eignet sich vielleicht das Beispiel der Wundpflege: Für das Auswechseln des Verbands, Reinigung der Wunde und so weiter braucht eine Pflegefachkraft gut und gerne täglich eine halbe Stunde. Zudem ist der Vorgang für die Bewohner nicht selten schmerzhaft. Ich hätte nichts dagegen, wenn wir ein Gerät über die Wunde stülpen könnten und nach zwei Wochen wäre sie geheilt. 

Ist Solina punkto Digitalisierung weiter als andere Pflege-Institutionen?

Vielleicht in dem Sinne, indem wir uns gedanklich auf die Reise zur digitalen Transformation aufgemacht haben. Wir haben die IT insourced, damit wir das notwendige Knowhow im Hause haben. Wir machen uns bewusst Gedanken über Rollenmodelle und wie wir unser Geschäft strukturiert in Daten abbilden könnten.

Ich kann mir unter einem Rollenmodell nichts vorstellen.

Mit diesem Modell können wir sagen, welche Stellen welche Rollen beinhalten. Die Küchenchefin zum Beispiel ist Leiterin ihres Teams. In dieser Rolle hat sie in Bezug auf ihr Team die gleichen Aufgaben wie ich als Geschäftsführer mit den mir unterstellten Mitarbeitenden: Sie muss einmal im Jahr ein Qualifikationsgespräch führen, beim Austritt von Leuten muss sie Ersatz rekrutieren und die neue Person einführen. Aber sie hat auch die Rolle einer Kostenstellenverantwortlichen, wo sie ein Budget erstellen muss. Die Aufgaben und Kompetenzen dieser Rolle sind wiederum identisch bei einer Kostenstellenverantwortlichen aus der Pflege. Nun haben wir generische Rollen und Prozesse. Und erst jetzt lohnt sich die Digitalisierung der Abläufe, weil genügend Usecases vorhanden sind.

Andere Bereiche, wo ein solches Rollenmodell Nutzen stiften könnte?

Der Nutzen entsteht  erst durch Verknüpfungen. Man kann die Funktionsrollen zum Beispiel mit Aufgaben verknüpfen, diese wiederum mit dem Zutrittssystem oder den Zugriffsberechtigungen der IT. Da eine Stelle in der Regel aus mehreren Rollen besteht, weiss ich beim Stellenantritt der Küchenchefin dann zum Beispiel, welche Schlüssel sie kriegt oder besser welche Zutrittsberechtigungen sie vielleicht zukünftig auf den Batch geladen bekommt, welche Software ihr installiert wird, welche Kundendaten sie einsehen darf oder dass sie den Lead beim Prozess der Personalbeurteilung ihres Teams hat.

Und? Ist das mit den Schlüsseln so wichtig?

Heute betreiben wir einen grossen Aufwand bis in jedem Fall klar ist, wer welchen Schlüssel erhält. Ganz zu schweigen davon, wenn ein Schlüssel verloren geht. Die Mitarbeitergespräche wiederum könnte man heute elektronisch abhandeln. Wir drucken immer noch Formulare aus. Sie werden am Gespräch ausgefüllt und unterschrieben. Dann werden sie dem HR abgegeben und dort abgelegt. In einem automatisierten elektronischen Prozess mit klar definierten Zuständigkeiten könnte die Küchenchefin und alle anderen Führungspersonen einiges an Zeit sparen.

In einem Dienstleistungsbetrieb spart man nur Kosten, wenn Arbeitsplätze eingespart werden. Mit ihren genannten Beispielen spart man nicht eine einzige Stelle.

Wir sparen mit den Beispielen vielleicht nirgends eine ganze Stelle. Aber vielleicht die Zeit von ein paar Stellenprozenten. Und Zeit ist Geld. Der Tausch von Zeit in Geld läuft aber schon über Einsparungen von Personalressourcen. Damit Stellenprozente reduziert werden können, braucht es die Umsetzung von vielen solchen Beispielen. Einen Teil des gesparten Geldes müssen wir zukünftig in den Unterhalt der eingesetzten Technologie investieren. Den Rest des Zeitgewinns können wir in sinnvollere Tätigkeiten investieren, die den Bewohnerinnen und Bewohner Nutzen stiften.

In der Pflege ist man eh nicht flexibel und kann keine Stellen einsparen. Der Kanton Bern macht Stellenvorgaben.

Der Kanton Bern gibt einen Richtstellenplan vor und finanziert diesen auch. Da wir eine Non-Profit-Organisation sind, können wir es uns leisten, diesen zeitweise sogar bis zu 6 Prozent zu übertreffen. Wir dürften den Betrieb aber legal mit dem Mindeststellenplan führen. Dieser liegt 20 Prozent unter dem Richtstellenplan. Solina verfügt also theoretisch über einen Spielraum von mehr als 20 Prozent. Ich gehe zudem davon aus, dass der Kanton bei akutem Fachkräftemangel gezwungen wäre, den Richtstellenplan nach unten zu korrigieren.

Das heisst, Sie könnten locker Personal einsparen.

Locker nicht, aber der Spielraum besteht durchaus. Die Branche ist flexibler als manche meinen. Bei Solina haben wir Personalkosten von knapp 35 Millionen Franken. Ich könnte diese theoretisch um 20 Prozent senken, ohne die Betriebsbewilligung zu verlieren. Das wären stolze 7 Millionen Franken pro Jahr. Aber wie gesagt: Das wollen wir nicht. Es ginge auf Kosten der Pflegequalität und der Zufriedenheit der Mitarbeitenden.

Zur Stiftung Solina

Solina ist eine Stiftung, die in Spiez und Steffisburg Pflegeplätze und Seniorenwohnungen anbietet. Die Solina in Spiez wurde 1901 als Krankenheim Asyl Gottesgnad mit 40 Betten eröffnet. 2013 erfolgte die Umbenennung in Solina Spiez und 2015 wurde ein Neubau mit 180 Einzelzimmern eröffnet.
Am Standort der Solina in Steffisburg wurden einst Ziegel hergestellt. 1983 kaufte der Verein Oberländische Krankenheime OKH das Areal, um ein Krankenheim mit 125 Betten zu bauen, so wie es das bernische Stimmvolk beschlossen hatte. Solina Steffisburg betreibt heute 130 Plätze für Langzeitpflege sowie einige Seniorenwohnungen im Nebengebäude.
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