Herr Kaegi, Sie waren Staatsanwalt für schwere Gewaltkriminalität und Ärztefälle im Kanton Zürich und haben unter anderem die Strafuntersuchung im «Seefeld-Mord» geführt. Glauben Sie noch an das Gute im Menschen?
Trotz zahlreicher Strafuntersuchungen im Bereich schwerster Gewaltkriminalität habe ich den Glauben an das Gute im Menschen nie verloren. Schliesslich steht hinter jedem Beschuldigten ein Mensch und eine Geschichte. Schwarz-Weiss-Denken ist hier fehl am Platz. Vielmehr muss man in jedem einzelnen Fall überprüfen, welches Motiv und welche Gedanken der Tat zugrunde lagen, welchen Erfolg der Beschuldigte herbeiführen wollte, wie sein Vorleben aussah und ob seine Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt allenfalls vermindert war.
Adrian Kaegi war Staatsanwalt für schwere Gewaltkriminalität im Kanton Zürich und dabei teilweise als federführender Staatsanwalt für Ärztefälle tätig. Zudem arbeitete er während rund zehn Jahren als technischer Operationspfleger in der Erstversorgung von Schwerstverletzten im Schockraum. Kaegi ist Gründer der
ViciMed AG, Health & Law Consulting, einer Beratungsfirma für Gesundheitsrecht in Zürich.
Unabhängig von meiner Einstellung weiss ich aus Erfahrung, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, deren kriminelle Energie hoch ist und bei denen von einer ernsthaften Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr auszugehen ist.
Auch diese Menschen landen vielleicht irgendwann im Spital. Was macht den Klinikbetrieb so anfällig für Gewaltausbrüche seitens der Patienten?
Das Spital, insbesondere Notfallstationen, sind Orte, wo sich ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Nationalitäten, Kulturen, Hintergründen und Vergangenheiten medizinische Hilfe holen. Manche stehen zum Zeitpunkt des Spitalseintritts unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen; manche leiden an psychischen Problemen, sind schwer traumatisiert, weil sie zum Beispiel Opfer von Gewalttaten wurden oder Kriegsopfer sind. Bei anderen wiederum handelt es sich gar um Straftäter, die bei der Tatausführung verletzt wurden. Manchmal braucht es dann nur wenig, und ein solches ‘Pulverfass’ explodiert.
«Auch ohne Statistiken lässt sich unschwer erkennen, dass Gewalt bis hin zu schwersten Körperverletzungsdelikten zugenommen hat.»
Können Sie das konkretisieren?
Körperliche Untersuchungen und Eingriffe, Anamnesegespräche, Schmerzen, Schockzustände, lange Wartezeiten, Ungewissheit über Diagnose und Dauer der Rekonvaleszenz sowie Ängste führen zu einer erhöhten Belastungssituation. Die wiederum kann sich in einer verminderten Frusttoleranz oder erhöhten Gewaltbereitschaft manifestieren. Diese verschiedenen Faktoren führen letztlich zu einem brisanten Spannungsverhältnis und damit verbunden zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, dass es zu verbalen und physischen Entgleisungen kommt – just gegenüber denjenigen, die helfen wollen.
Ist die Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt gesunken?
Ja, meines Erachtens schon. Auch ohne Statistiken lässt sich unschwer die Tendenz erkennen, wonach verbale oder körperliche Gewalt bis hin zu schwersten Körperverletzungsdelikten spürbar zugenommen hat.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es fällt allgemein auf, dass der Respekt und der Anstand vor Ärztinnen und Ärzten, aber auch vor dem Pflegepersonal oder Sanitätern im Verlaufe der Jahre abgenommen haben. Gestiegen ist hingegen der Alkohol- und Drogenkonsum. Zahlreiche schwere Körperverletzungsdelikte und Tötungen sind auf übersteigerten Konsum von Alkohol und Drogen zurückzuführen. Zunehmende Zahlen von leichten bis schweren Persönlichkeitsstörungen bergen ebenfalls die Gefahr erhöhter Gewaltbereitschaft.
«Dankbarkeit und Wertschätzung treten in den Hintergrund. Wartezeiten werden weniger goutiert.»
Zugleich hat auch die Anspruchshaltung der Patienten stark zugenommen. Welchen Einfluss hat dieser Faktor auf die zunehmende Gewaltbereitschaft im Spital?
Meines Erachtens ist die Anspruchshaltung der Patienten spürbar höher als früher. Oftmals herrscht die irrige Meinung, dass der Arzt respektive die Ärztin den Behandlungserfolg garantieren muss. Dankbarkeit und Wertschätzung treten gelegentlich in den Hintergrund. Wartezeiten auf körperliche Untersuchungen und Diagnosen werden weniger goutiert und können vermehrt zu Frustration führen.
Gibt es einen Spital-Fall, der Ihnen als ehemaliger Staatsanwalt besonders in Erinnerung geblieben ist?
Ein Fall ist mir bis heute besonders geblieben: Ein angeblicher Patient hatte älteren bettlägerigen Patientinnen und Patienten in deren Gegenwart aus dem Spitalzimmer Wertsachen – wie Portemonnaies, Schmuck et cetera – entwendet. Als man ihn stellen wollte, wendete gegenüber dem Pflegepersonal brachiale Gewalt an und flüchtete. Derartige Übergriffe machen alle ganz besonders betroffen.
Sie beraten unter anderem Ärzte und Spitäler bei Rechtsfällen und machen auch Schulungen zur Gewaltprävention. Wie kann sich das Spitalpersonal schützen?
Aus meiner Erfahrung als Berater und ehemaligen Staatsanwalt können durch das Spitalpersonal folgende Massnahmen ergriffen werden, um mit Gewalt umzugehen:
Schulungen: Professionelle Schulungen zu Deeskalation, Eigensicherung und Selbstverteidigung können zum Schutz der Mitarbeiter beitragen
Offene Kommunikation: Es ist wichtig, das Thema anzusprechen: Dafür kann beispielsweise eine berufliche Kontakt- oder Vertrauensperson gewählt werden.
Selbstbewusstsein und Ruhe: Das Verhalten des medizinischen Teams sollte idealerweise von Ruhe und Selbstbewusstsein geprägt sein.
Konzepte zum Schutz vor Gewalt: Die Arbeitgeber sollte im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements Konzepte zum Schutz vor Gewalt bereitstellen. Baulich-technische, organisatorische, personenbezogene Massnahmen, aber auch Konzepte zum Umgang mit aggressiven Patienten resp. deren Angehörigen stellen die Eckpfeiler des Mitarbeitendenschutzes dar.
Alarmpläne: Auch für den absoluten Ausnahmefall einer Amoksituation wäre es wichtig, Spitaleinsatz- und Alarmpläne erarbeitet und etabliert zu haben.
Welche Regelung sieht das Arbeitsgesetz vor?
Das Arbeitsgesetz verpflichtet die Arbeitgeber als Teil der Fürsorgepflicht, die erforderlichen Massnahmen zum Schutz der persönlichen Integrität der Arbeitnehmenden vorzusehen. Das alles kann dazu beitragen, das Risiko von Gewalt und sonstigen Grenzüberschreitungen in Gesundheitseinrichtungen zu minimieren und das Personal noch besser auf solche Situationen vorzubereiten.