«Die zweite Welle droht die Kapazität der Spitäler zu überfordern»: Diese Schlagzeile kommt nicht etwa aus der Schweiz, sondern steht an diesem Samstag, 24. Oktober 2020,
in Spaniens führender Zeitung «El País». Geht es um die Infektionszahlen, so ist Spanien der Schweiz um vier bis sechs Wochen voraus. Trotzdem hört sich der ganze Beitrag massiv weniger alarmierend an als das, was die Schweizer Medien momentan bieten.
Die Lage in Spanien ist heikel, gewiss, aber sie ist noch lange nicht ausser Kontrolle: Dies der Tenor. Auch wenn die Regierung in Madrid an diesem Sonntag den Alarmzustand ausrufen dürfte – verglichen mit den nachtschwarzen Prognosen der Schweizer Covid-Task-Force sind die Zukunftsszenarien dort dennoch milder: Dass es zu einer Triage kommt, bei der Patienten die Behandlung verweigert werden muss? Das ist überhaupt kein Thema. «Jetzt oder nie»-Rhetorik? Fehlanzeige.
Warum dermassen andere Akzente? An den spanischen Fallzahlen kann es definitiv nicht liegen; obendrein sind in Iberien die Spitalkapazitäten begrenzter.
Profi-Management, nicht Theorie-Modelle
Der Unterschied: Im «El Pais»-Beitrag kommen ausschliesslich Praktiker zu Wort – Intensivmediziner, Ärzte und Medizingewerkschafter, Fachgesellschafts-Vertreterinnen, Spitalmanager, regionale Behördenvertreter. Sie berichten von den Management-Aufgaben, welche Covid-19 mit sich bringt: Umlagerungen, Operationsplanung, Personalplanung.
Beschrieben wird, wie die Spitäler beispielsweise die Belastung der Intensivstationen glätten, indem sie Plan-Operationen auch am Wochenende vornehmen. Und man erfährt nebenbei, dass in Madrid bereits wieder ganze Spitalstationen umgewidmet werden: elektive Chirurgie statt Covid-19-Patienten.
Die Twitter-Taskforce
Ganz anders die Debatte in der Schweiz. Hier herrscht langsam die Vorstellung einer fundamentalen nationalen Notlage. Treibende Kraft dabei ist die
COVID-19 Taskforce des Bundes respektive eine Gruppe ihrer Vertreter. Es vergeht kein Tag, an dem nicht mehrere Mitglieder vor die Medien treten und sich via Social Media äussern, um sich mit der Forderung nach strengeren Massnahmen gegenseitig zu überbieten.
An der Kompetenz des Gremiums – fast allesamt Professoren – soll nicht gezweifelt werden, ebensowenig an ihrem wissenschaftlichem Know-How. Aber wo sind die Praktiker in der Taskforce zu finden? Wo sind die Profis, die hauptamtlich mit Patienten arbeiten oder Personalpläne erstellen?
Die Taskforce-Vertreter, die zur Arbeit in die Klinik fahren, sind an einer Hand abzuzählen.
«Die Forderungen der 'Science Task Force' bergen gewaltige Risiken. Aber diese werden momentan kategorisch ausgeblendet.»
Dies ist zu wenig und der Bundesrat müsste sich ernsthaft fragen, ob man den Begriff «wissenschaftlich» aus dem Titel der Taskforce streichen könnte – um das Gremium zu erweitern. Oder aber ob er eine zweite Taskforce gründet, welche in der Covid-19-Debatte Experten der Praxis und der Zivilgesellschaft bündelt – Experten, die dann ebenfalls mit dem Label «Task Force» autoritativ twittern könnten.
Das würde vor allem auch helfen, den Tunnelblick zu öffnen: «Thinking out of the box.»
Eines ist nämlich klar: Die Forderungspakete der «Swiss National Covid-19 Science Task Force» bergen ebenfalls gewaltige Risiken. Aber die werden momentan kategorisch ausgeblendet.
Denken im Lockdown-Modus
Die aktuelle Taskforce steckt jedenfalls in einem geistigen Lockdown-Modus, den sie natürlich aufgrund des ersten Lockdown in aller Zukunft verteidigen muss – auch wenn Evidenzen auftauchen, wonach beispielsweise der Lockdown nicht wirklich der entscheidende Faktor zur Bekämpfung des Virus war.
«Ausgerechnet zur allerwichtigsten theoretischen Frage bieten die Wissenschaftler keine Antwort.»
Ausgerechnet zur allerwichtigsten theoretischen Frage bieten die Wissenschaftler keine Antwort – nämlich zur Exit-Strategie. Zur Frage, wie die Gesellschaft ohne baldige Impfung aus diesem destruktiven Zyklus von Lockdown-Drohungen und halbherzigen Öffnungen herauskommen soll.
Das Wunder von Elgg
Überhaupt schweigt sich das Gremium zu manchen Themen aus, in denen die Wissenschaft in anderen Ländern nach Antworten sucht oder wo Forschungsbeiträge dringend benötigt würden. Zum Beispiel:
- Wie kommen wir zu einheitlichen Messvorgaben schweizweit für den PCR-Test?
- Wie wirkt sich der Sensitivitätsfaktor auf die Hospitalisierungen oder den Krankheitsverlauf aus?
- Wie erklären sich die tieferen Hospitalisierungs- beziehungsweise ICU-Raten demographisch, medizinisch, immunologisch? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
- Oder ganz konkret: Was ist die wissenschaftliche Erklärung für das «Wunder von Elgg»?
- Wie steht die Schweiz bei den Infektionsraten älterer Menschen im internationalen Vergleich da?
Es ist höchste Zeit, dass man die Taskforce neu ausrichtet und mit Leuten besetzt, die nicht nur aus den Universitäten kommen und die auch niemals auf Nationalfonds-Gelder angewiesen sein werden.
Und die deshalb in der Lage sind, der Debatte die notwendige Breite zu geben.
- Christian Fehrlin ist Inhaber und Mitgründer der Winsider AG. Die Winsider betreibt die beiden B2B Newsplattformen Medinside und Inside-IT.