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Verein Gesundheitsdatenraum Schweiz will, dass die Bürgerinnen und Bürger die Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten behalten. Was es für die sogenannte menschenzentrierte Datenhaltung braucht und warum das mit dem heutigen elektronischen Patientendossier (EPD) nicht funktioniert, haben wir im Interview mit dem Vereinspräsidenten und ehemaligen ETH-Präsident Ernst Hafen und der Ärztin und Vereins-Vizepräsidentin Barbara Biedermann diskutiert. Im Gespräch fordern sie unter anderem eine Eidgenössische Datenprüfanstalt.
Wie bewerten Sie aktuell die Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Ernst Hafen: Es fehlt vor allem an strukturierten Daten und der Möglichkeit, dass diese jede Bürgerin und jeder Bürger selbst verwalten und kontrollieren kann. Das ist die Basis für die Digitalisierung im Gesundheitswesen.
Woran hakt es?
Hafen: Erstens daran, dass zurzeit im EPD überhaupt keine strukturierten Daten abgelegt werden können…
Barbara Biedermann: … und zweitens an der fehlenden Interoperabilität der Systeme. Mein Praxisinformationssystem ist nicht interoperabel mit dem EPD. Das heisst: Auch wenn die Daten bei Ärztinnen und Ärzten strukturiert erhoben werden, bleibt es am Ende bei der Aushändigung in PDF-Form. Viele Medienbrüche bedeuten einen manuellen Mehraufwand und eine höhere Fehleranfälligkeit.
- Barbara Biedermann ist Fachärztin für Innere Medizin und Titularprofessorin der Universität Basel. Unter anderem ist sie auch Verwaltungsratspräsidentin des Gesundheitszentrums Hottingen, Zürich.
- Ernst Hafen ist Professor am Institute of Molecular Systems Biology der ETH Zürich; 2005/06 präsidierte er die Hochschule. 2008 war er Mitgründer des Beratungsunternehmens Evaluescience, das die Qualitätssicherung in akademischen Institutionen thematisiert.
Was meinen Sie mit menschenzentrierter Datenhaltung?
Hafen: Dass jeder Mensch selbst für seine Gesundheitsdaten verantwortlich sein sollte, niemand anderes. Individuen sollen von Geburt an ihre Daten erfassen und verwalten können. Wenn dies mit einem guten Governance-Modell umgesetzt wird, profitiert die Gesellschaft davon, nicht nur die Shareholder von Apple oder Google.
Abgesehen von gewissen Herausforderungen beim Datenschutz ist das Gesundheitswesen auch weit weg von Ihrer Vision.
Biedermann: Das ist so. Grund dafür ist, dass Praxis- und auch Klinikinformationssysteme (PIS, KIS) eine praxis- beziehungsweise spitalzentrierte Sicht haben. Diese Systeme sind nicht durchlässig – natürlich auch wegen Datenschutz und Datensicherheit. Durchlässigkeit erlauben können nur Patientinnen und Patienten selbst, deshalb müssen sie Zugriff auf alle ihre Gesundheitsdaten haben.
Wollen die Menschen überhaupt ihre Daten kontrollieren? Das EPD in seiner aktuellen Form ist zumindest ein Schrittchen in diese Richtung, aber kaum jemand hat eins eröffnet.
Hafen: Das EPD war und ist ausgesprochen mühsam zu eröffnen. Darüber hinaus hat die Ärzteschaft nicht wirklich Werbung dafür gemacht. Würde mir meine Ärztin ein EPD empfehlen, dann würde ich eher eines eröffnen.
Biedermann: Es ist total unnatürlich, ein EPD auf der Post oder in einer Apotheke zu eröffnen. Das müsste direkt während dem Arztbesuch möglich sein. Natürlich müsste dies die Ärzteschaft dann auch über einen entsprechenden Zeittarif abrechnen können, aber daran sollte es doch nicht scheitern.
Aktuell sind ja Ärztinnen und Ärzte alles andere als EPD-Influencer. Und auch die Hälfte der Spitäler, die eigentlich gesetzlich zum Mitmachen verpflichtet wären, foutieren sich darum.
Biedermann: Eben weil es für alle Beteiligten einen Mehraufwand bedeutet, den sie kaum abrechnen können. Alle Anbieter von PIS- und KIS-Lösungen müssten zudem verpflichtet werden, eine EPD-Schnittstelle anzubieten.
Hafen: Ärztinnen und Ärzte wollen es natürlich auch nicht wegen der Transparenz, die es herstellt. Der Ärzteverband hat mit dem Referendum gedroht, falls das EPD ohne doppelte Freiwilligkeit gekommen wäre.
Die doppelte Freiwilligkeit soll zwar jetzt enden, aber das EPD wird dadurch nicht besser oder brauchbarer. Braucht es eine radikale Lösung? Wir stoppen das aktuelle EPD und fangen nochmal von vorne an, wie zum Beispiel bei der E-ID, die in zwei Jahren verfügbar sein soll?
Hafen: Ja, ich denke, es braucht ein radikal neues System mit einem neuen Namen. Gesundheitsdossier zum Beispiel, verwaltet von einer Gemeinschaft, mit strukturierten Daten von allen Leistungserbringern. Verpflichtend für alle.
Biedermann: Ja, und der Bund muss Architektur, Schnittstellen, Normen und Standards vorgeben. Und es braucht eine Art Eidgenössische Datenprüfanstalt analog zur Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa), auch um Datenschutz und Datensicherheit prüfen zu können.
«Die Lösung vom Kantonsspital Luzern, die auf Epic basiert, kommt gut an. 36'000 Patienten nutzen sie, gegenüber den 200 Menschen, die dort ein EPD besitzen.»
Letzteres könnte ja das Bundesamt für Cybersicherheit übernehmen. Sie sagen also, lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende beim EPD?
Biedermann: Eine Datenprüfanstalt müsste auch die Datenqualität messen können oder die Echtheit der Daten. Sie müsste das Wesen der digitalen Daten erforschen. Das EPD ist meines Erachtens «totreguliert» worden. Obligationenrecht, Strafgesetz, Datenschutzgesetz und die Gesundheitsgesetze würden eigentlich den Rahmen für ein EPD genügend abstecken.
Hafen: Auch für mich ist klar, dass sich etwas radikal ändern muss. Selbst wenn wir mit der aktuellen Lösung weiterfahren.
Der Mensch müsse im Zentrum stehen, sagen Sie. Aber bis jetzt gab es noch keine Volksabstimmung, die ein EPD oder etwas Vergleichbares legitimiert hätte. Bei der E-ID gab es das. Dort hat das Volk seinen Willen klar zum Ausdruck gebracht. Meine These ist: Das EPD würde eher funktionieren, wenn es in einer Abstimmung legitimiert würde.
Biedermann: Grundsätzlich eine gute Idee. Bei der E-ID hat es funktioniert.
Hafen: Würden attraktive Lösungen mit den entsprechenden Qualitätsstandards gebaut, würden sie automatisch genutzt. Beim E-Banking funktioniert das auch, obwohl wir dort auch nie darüber abgestimmt haben.
Aber Stand jetzt läuft es ja mit internationalen Anbietern wie Epic, Weltmarktführer im Bereich Klinikinformationssysteme, zumindest indirekt wieder auf eine nicht-staatliche Lösung heraus. Würde es eine Abstimmung geben: Warum sollte das Volk dann anders entscheiden als 2021 bei der E-ID?
Hafen: Ich weiss nicht, ob es anders entscheiden würde. Was ich aber weiss, ist: Die Lösung vom Kantonsspital Luzern, die auf Epic basiert, kommt gut an. 36'000 Patientinnen und Patienten nutzen sie, gegenüber den 200 Menschen, die dort ein EPD besitzen.
Egal, welche Lösung am Ende kommt: Ihre Vision von der menschenzentrierten Datenhaltung bedeutet einen starken Kulturwandel für die Gesundheitsbranche. Ist diese bereit dafür?
Hafen: Der Kulturwandel muss von den Patienten und Bürgerinnen angestossen werden. Sie müssen ihr Recht auf ihre Daten einfordern. Dieses Recht haben sie. Sie müssen nur entsprechend incentiviert werden.
Welche Rolle spielen Ärztinnen und Ärzte?
Biedermann: Eine wichtige. Sie müssen den Wandel mitgestalten und vorantreiben. Personalisierte, datengetriebene Therapien sind mit Papier und Bleistift nicht mehr durchführbar.
Nochmal zu Ihrem Verein Gesundheitsdatenraum Schweiz: Sie haben sich bei der Gründung vor anderthalb Jahren eine «Lebensdauer» von fünf Jahren in die Statuten geschrieben. Sind Sie zufrieden mit dem bisher Erreichten?
Hafen: Ja, wir sind zufrieden. Wir wollen die Grundlage schaffen, die es für die digitale Transformation braucht.
Biedermann: Was uns bis jetzt nicht gelungen ist, ist die Begeisterung bei den Leistungserbringern zu entfachen. Sie müssen diese Vision auch mittragen. Da wollen wir in den nächsten zwei bis drei Jahren den Fokus darauf legen.
Die Grundlage für die digitale Transformation im Gesundheitswesen schaffen will auch das Programm Digisanté beim Bund, für das beide Räte 400 Millionen Franken sprachen.
Biedermann: Bis jetzt ist das eine träge und etwas undurchsichtige Angelegenheit. Digisanté funktioniert nur, wenn die richtigen Leute in den richtigen Arbeitsgruppen sind. Sollte das aber der Fall sein, kann es ganz schnell gehen.
Hafen: Das Beispiel E-ID macht Hoffnung. Das ist ein Vorzeigeprojekt, das dank eines Konsenses über alle Beteiligten und Parteigrenzen hinweg.