In den kommenden Jahren wird der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin die Prävention, Diagnose, Therapie und die damit einhergehenden Abläufe und Verantwortlichkeiten im Gesundheitswesen grundlegend transformieren. Zusammen mit Expertinnen und Experten der Universität Zürich und weiterer Organisationen haben wir im Strategy Lab der
Digital Society Initiative in die Zukunft geschaut.
In unserer systematischen und partizipativen Herangehensweise haben wir den digitalen Zwilling als eine bedeutende zukünftige Entwicklung identifiziert.
Claudia M. Witt, MD, MBA, ist Professorin für Komplementär- und Integrative Medizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich (UZH). Sie ist Co-Direktorin der Digital Society Initiative (DSI) der UZD und leitet vielfältige Projekte im Bereich Digital Health.
Es handelt sich dabei um eine Abbildung unseres Körpers (Organe und Stoffwechselprozesse) in Form einer komplexen Software. Bereits heute werden isolierte Organe getestet, etwa ein digitales Zwillingsherz. So wurde für die amerikanische Langstreckenläuferin Desiree Linden ein digitales Herz personalisiert, damit unter anderem ihre Herzleistung und Belastung während des New York Marathons Anfang November 2023 simuliert werden können, wie unter anderem
«Runner's World» berichtete.
Den gesamten Körper als digitaler Zwilling abzubilden, ist jedoch sehr viel komplexer und noch Zukunftsmusik. Was ein digitaler Zwilling konkret ist, zeigt dieses Video:
Obschon aktuell noch Zukunftsmusik, wollten wir wissen, was die Schweizer Bevölkerung heute zu digitalen Zwillingen denkt. Wir haben deshalb zusammen mit dem Forschungsinstitut GFS eine repräsentative Umfrage durchgeführt.
Die Ergebnisse sind interessant: Fast zwei Drittel der Schweizerinnen und Schweizer (62%) stehen dem digitalen Zwilling positiv gegenüber, bei den über 65-Jährigen sind es sogar 67 Prozent. Die Nutzung soll aber eine freiwillige Entscheidung sein: 87 Prozent sind gegen eine Pflicht zur Nutzung digitaler Zwillinge, auch wenn die Behandlung dann gegebenenfalls schlechter wäre.
Die Interessierten möchten den digitalen Zwilling am häufigsten für eine bessere Abstimmung der Behandlung (81 Prozent), eine Vorhersage des Erkrankungsverlaufs (76 Prozent), die Identifikation von Krankheitsrisiken (76 Prozent) und die Prüfung von Therapievorschlägen (71 Prozent) nutzen.
Das Prinzip des Digitalen Zwillings: Alle Informationen über den Körper eines bestimmten Menschen und seine Organe werden erfasst – es entsteht ein «digitaler Zwilling». Wenn Sensoren neue Daten erlangen, wird das Gesamtbild vervollständigt und aktualisiert: Der Zwilling wird aufdatiert. Später dann lassen sich Therapien oder Medikamente erst am Zwilling testen, bevor sie am Patienten eingesetzt werden. Oder der Verlauf einer Krankheit lässt sich besser voraussagen.
Drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer sehen den Staat in der Rolle, die notwendigen technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Nutzung digitaler Zwillinge zu schaffen. 64 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass die Nutzerinnen und Nutzer ihre anonymisierten Gesundheitsdaten für Forschung zu digitalen Zwillingen zur Verfügung stellen sollten.
Das Vertrauen der Bevölkerung, dass digitale Zwillinge korrekt und in ihrem Sinne eingesetzt werden, ist am höchsten in Hochschulen mit medizinischer Forschung (79 Prozent) und öffentlichen Spitälern (75%), gefolgt von staatlichen Bundesämtern (62 Prozent) und Privatkliniken (59 Prozent). Nur 32% der Befragten vertrauen den Krankenkassen und noch weniger der Pharmaindustrie (28 Prozent) oder Technologieunternehmen (27 Prozent).
Was tun für eine verantwortungsvolle Nutzung digitaler Zwillinge?
Erste Entwicklungen und unser Blick in die Zukunft zeigen: Digitale Zwillinge werden Teil der Gesundheitsversorgung sein. Wir sollten uns jetzt darauf vorbereiten, damit wir bestmöglich davon profitieren. Aus diesem Grund haben wir in unserem Strategy Lab Ziele sowie Empfehlungen für eine verantwortungsvolle Nutzung digitaler Zwillinge in der Medizin aus vier Stakeholderperspektiven erarbeitet: Bürgerinnen und Bürger, Gesundheitsfachpersonen, Hersteller und Anbieter von digitalen Zwillingen sowie Regulatoren und Kostenträger.
Diese Ziele und Empfehlungen wurden in einem
Positionspapier zusammengefasst.
Dort haben wir unter anderem folgende Ziele aus der Perspektive von Herstellern und Anbietern von Digitale-Zwillings-Services (Technologiefirmen, Startups, Pharmaunternehmen, Medizinprodukt-Betriebe und Hochschulen) formuliert:
1. Anbieter von Digitale-Zwillings-Services haben gemäss Open-Data-Prinzipien (offene Standards, Interoperabilität) Zugang zu möglichst vielen anonymisierten Gesundheitsdaten.
2. Medizinische Leistungen werden so abgerechnet, dass Empfehlungen qualitativ hochwertiger und entsprechend zertifizierte Digitale-Zwillings-Services rückvergütet werden.
3. Zulassungsverfahren, Zertifizierung und Regulation von Digitale-Zwillings-Services sowie Informationspflichten für Anbieter solcher Services sind definiert und agil.
Mit unserem Strategy Lab liefern wir also Empfehlungen für einen verantwortungsvollen Umgang mit dieser Zukunftstechnologie und wir zeigen auf, dass ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung gegenüber digitalen Zwillingen positiv eingestellt ist. Die Umfragedaten zeigen aber auch deutlich, dass Unternehmen noch Vertrauen in der Bevölkerung aufbauen müssen.
Denn die wichtigste Forderung unseres Positionspapier aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger ist, dass der Mensch weiterhin das letzte Wort haben soll: «Bürgerinnen und Bürger entscheiden über Erzeugung, Datenquellen, Ausgestaltung, Nutzungsart und Lebensdauer ihrer persönlichen Digitale-Zwillings-Services» – dieser Grundsatz hat auch in unserer Umfrage hohe Zustimmung erhalten.