In den ungelösten Tarifstreitigkeiten zwischen Krankenversicherern auf der einen und Spitäler und Ärzte auf der anderen Seite wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Geschrieben wird es vom Schweizerischen Versicherungsverband (SVV), der im Bereich der Zusatzversicherungen die Krankenversicherer vertritt.
So hat der SVV ein Regelwerk mit elf Grundsätzen erarbeitet und mit den Leistungserbringern abgeglichen. Bis Ende 2024 sollen die Grundsätze in allen Tarifverträgen für die Spitalzusatzversicherungen privat und halbprivat verankert sein. Dies teilte der SVV am Donnerstag mit.
Das Branchenframework der Krankenzusatzversicherer
Das gemeinsame Massnahmenkonzept der Schweizer Krankenzusatzversicherer umfasst elf Grundsätze und Mindestanforderungen zu Mehrleistungen.
Grundsatz 1: Mehrleistungen werden im Vergleich zum Leistungsniveau der OKP des jeweiligen Leistungserbringers betrachtet – Eine Marktsicht wird, wo nötig zur Verhinderung von Fehlanreizen oder systematischen Benachteiligungen in die Betrachtung, integriert.
Grundsatz 2: Mehrleistungen zwischen Leistungserbringern und einzelnen Versicherern differenzieren sich in Kategorien klinische Leistungen, ärztliche Leistungen sowie Hotellerie/Komfort.
Grundsatz 3: Eine Mehrleistung muss vertraglich definiert, erhebbar, bewertbar und nutzbar sein.
Grundsatz 4: Ein Mehrleistungskatalog des Leistungserbringers zuhanden des einzelnen Versicherers bildet die Basis für die Bewertung, die Abrechnung und das Leistungs-Controlling.
Grundsatz 5: Ärztliche Mehrleistungen werden auf klarer vertraglicher Basis vergütet - die Entschädigung der ärztlichen Leistung in der OKP ist auf Grundlage der stationären und ambulant anwendbaren Tarife abgegolten.
Grundsatz 6: Die Kriterien zur Bewertung von Mehrleistungen werden durch die einzelnen Versicherer festgelegt.
Grundsatz 7: Mehrleistungen definieren sich auch über den Mehrwert am Patienten und nicht ausschliesslich über allfällige Mehrkosten.
Grundsatz 8: Unterschiede in der Bewertung von gleichwertigen Mehrleistungen müssen klar begründbar sein.
Grundsatz 9: Die Bewertung von Mehrleistungen erfolgt in der Regel auf Basis von Leistungspaketen und nicht auf Basis von Einzelleistungen.
Grundsatz 10: Nur tatsächlich erbrachte Mehrleistungen/Mehrleistungspakete werden von Versicherern vergütet.
Grundsatz 11: Innovation zu Gunsten des Patientennutzens ist gewünscht. Trends wie «ambulant vor stationär» sind eine Chance für neue Mehrleistungsservices.
Die Finanzmarktaufsicht (Finma) kritisiert seit Jahren die mangelnde Transparenz der Tarifverträge. Ende Dezember machte sie die Unregelmässigkeiten publik, sprach von Doppelverrechnungen und zu hohen Arztrechnungen. Bei 40 Ärztinnen und Ärzte seien Honorare bei Patienten geltend gemacht worden, ohne dass dies begründet wurde (siehe Kasten unten).
Leistungsprinzip statt Vollkostenprinzip
Laut SVV schafft das Regelwerk eine neue Generation von Spitalzusatzversicherungsverträgen. Sie richten sich am Leistungsprinzip und nicht mehr am Vollkostenprinzip, wie das bei Einführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) im Jahr 1996 der Fall gewesen ist. Man könnte auch sagen: Bottom-up statt Top-down.
Für einen Vertrag braucht es immer zwei: Inwieweit dann alle Spitäler und Belegärzte (insbesondere aus der Romandie) mitmachen, ist eine andere Frage. Der SVV sagt jedoch, die Grundsätze seien mit Exponenten öffentlicher und privater Spitäler abgestimmt worden. Auch Belegärzte seien in die Gespräche eingebunden worden.
Wettbewerb bleibt gewährleistet
Wie der SVV weiter erklärt, sei die Gestaltung der Versicherungsprodukte sowie die Preisfindung für die überobligatorischen Leistungen davon nicht tangiert. Dies sei und bleibe Sache der Versicherungsgesellschaften und der Spitäler. «Somit ist der Wettbewerb im VVG weiterhin gewährleistet», sagt Urs Arbter, stellvertretender Direktor des SVV.
Doch gerade mit dem Wettbewerb ist das so eine Sache. Dieser funktioniert nur, wenn die Möglichkeit besteht, ein Angebot auszuschlagen und die Dienstleistung eines Mitbewerbers in Anspruch zu nehmen. Wenn aber die Krankenzusatzversicherer dem Kunden freie Spital- und Arztwahl garantieren, sind sie Spitälern ausgeliefert. Der Preisüberwacher nennt dies einen «faktischen Kontrahierungszwang». Die Concordia spricht von «dominanter Marktstellung».
Mehr Macht den Krankenkassen
Aus diesem Grund ist auch die Politik aktiv geworden. Wie
hier berichtet, wollen Bundesparlamentarier den Krankenkassen ermöglichen, im Rahmen des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) gemeinsam mit Spitälern und Ärzten zu verhandeln, ohne dabei Wettbewerbsrecht zu verletzen. Man erhofft sich damit eine Verhandlungsposition auf gleicher Höhe. Eine Massnahme, die selbst unter Krankenversicherern umstritten ist.
Was bisher geschah
Ende 2019 haben die Krankenversicherer von der Finma unangenehme Post erhalten. Die Aufsichtsbehörde schreibt darin: «In der jüngeren Vergangenheit hat die Finma zahlreiche kritische Hinweise zur Abrechnung von medizinischen Leistungen im Krankenzusatzversicherungsbereich erhalten».
Die Finma werde Prämiensenkungen durchsetzen, «wenn ein Versicherungsunternehmen eine missbräuchlich hohe Gewinnmarge oder nicht belegbare Kosten für ein Krankenzusatzversicherungsprodukt einkalkuliert». Medinside schrieb
hier darüber.
Es schien nicht wirklich zu nützen: Ein Jahr später, am 5. Dezember 2020, erklärt ein Finma-Sprecher gegenüber Medinside: «Diverse Analysen der Finma haben gezeigt, dass viele Tarifverträge zwischen Krankenversicherern und Leistungserbringern – Ärzten und Spitälern – derart intransparent und heterogen sind, dass sie zu Fehlanreizen führen können und Spielraum für eine zu grosszügige Kostenüberwälzung von Leistungen auf die Krankenzusatzversicherung bieten.» Mehr dazu
hier.
Zwei Wochen später dann der Knall: Am 17. Dezember 2020 kritisiert die Finma die intransparenten, unbegründeten und ungerechtfertigten Rechnungen im Bereich der Krankenzusatzversicherung und publiziert eine lange Mängelliste, um nicht Sündenregister zu sagen. Die Medien berichteten breit darüber.
Hier das Communiqué der Finma.
Das blieb in Bundesbern nicht ohne Echo. Nationalrätinnen und Nationalräte verschiedener Parteien wollten in der Fragestunde vom Bundesrat wissen, was er in dieser Sache zu tun gedenke. SP-Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo reichte eine
Interpellation ein.
Die Luzernerin ist auch Präsidentin der Stiftung für Konsumentenschutz. Aufgrund der Antwort des Bundesrats und eigenen Beobachtungen hat der Konsumentenschutz Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft eingereicht und die Eröffnung eines Strafuntersuchungsverfahrens beantragt. Medinside berichtete
hier darüber.