Warum verlässt Carrel das Inselspital?

Der Herzchirurg Thierry Carrel ist einer der renommiertesten Ärzte der Schweiz. Warum das Inselspital den Wegzug seines Aushängeschildes nicht verhindern konnte oder wollte, wirft Fragen auf.

, 19. November 2020 um 07:00
image
Thierry Carrel.
Warum verlässt eigentlich der bekannte Herzchirurg Thierry Carrel das Berner Universitätsspital? Weshalb verzichtet er auf die Funktion als Klinikdirektor, um dann an der Zürcher Herzklinik nur die zweite Geige zu spielen?
Wie so oft bei Sesselwechseln wird es auch hier verschiedene Gründe geben. Doch einer der massgebenden Gründe hat einen Namen: Uwe E. Jocham.

Jocham wollte ein Doppelmandat

Der frühere Chef des Pharmaunternehmens CSL Behring ist seit drei Jahren der starke Mann am Inselspital. Zuerst war er VR-Präsident und wollte auch nach seiner Nomination zum CEO im Verwaltungsrat bleiben, musste aber das Doppelmandat auf politischen Druck abgeben.
Jocham direkt unterstellt ist die Medizinische Direktion mit Martin Fiedler und Urs Mosimann. Sie sind – oder besser: waren - die direkten Vorgesetzten der Klinikdirektoren, die in gewissen Direktionen gleichzeitig auch Chefarzt sind. 43 Kliniken gibt es am Inselspital: Die Universitätsklinik für Herz- und Gefässchirurgie des Thierry Carrel ist eine davon.

Expertenorganisation

Man nennt dies Expertenorganisation. Das Führen einer Organisation von Fachexperten ist extrem schwierig. Das weiss jedes Lehrbuch. Experten sind Cracks auf ihrem Gebiet. Sie lassen sich nicht gerne dreinreden und sind sich grosse Freiheiten gewohnt. Regeln sind ihnen ein Graus; Veränderungen sowieso.
Uwe Jocham hat keine Erfahrung mit Expertenorganisationen. Und die Medizinische Direktion ist überfordert, 43 Kliniken zu führen. Ihr mangelt die Erfahrung und Akzeptanz. Also kreierte sie eine zusätzliche Hierarchiestufe, bündelte mehrere Kliniken zusammen und stellte obendrauf einen Chef.

Carrel rapportierte einem Kardiologen

Im Falle von Carrel heisst dies: die Kliniken Kardiologie, Herz- und Gefässchirurgie und Angiologie werden in den Bereich Herz/Gefäss zusammengefasst und bilden somit einer von 12 Medizinbereiche. Der Medizinbereich Herz/Gefäss steht unter der Führung von Michael Billinger, wie Uwe E. Jocham und Martin Fiedler auch er ein Deutscher.
Das heisst, Carrel rapportiert nicht mehr der Medizinischen Direktion, sondern einem Kardiologen. Billinger ist zudem der stellvertretende Direktor der Klinik Kardiologie.

Bedeutung von Kliniken ändert sich

Translationale Medizin ist das Stichwort dazu. Man könnte das auch interdisziplinär nennen, wenn es denn auch funktioniert. «Wir erleben auch dank der technischen Entwicklung Verschiebungen in der Medizin», sagt Mediensprecher Alex Josty dazu. Einige Disziplinen hätten auf der Zeitachse andere Bedeutungen als früher. Josty nennt als Beispiel die Radiologie, der heute eine viel grössere Bedeutung zukomme als noch vor zehn Jahren.
Mit der Bildung von Medizinbereichen und einer zusätzlichen Hierarchiestufe geht ein Kompetenzverlust der Klinikdirektoren einher. Carrel war nicht mehr Herr über sein eigenes Budget. Verantwortlich dafür war sein neuer Vorgesetzter.
Ein neuer Vorgesetzter ginge vielleicht noch – aber ein Kardiologe? Kardiologen werfen Carrel schon länger vor, eine veraltete Herzchirurgie zu betreiben. Die katheterbasierte oder endovaskuläre Chirurgie habe er überhaupt nicht gepusht. Carrel und seine Kollegen von der Kardiologie waren alles andere als grün.

Kardiologen sind die Gatekeeper

Man muss wissen: Wie die Radiologie hat auch die Kardiologie eine viel grössere Bedeutung als früher. Die Kardiologen sind die Gatekeeper. Sie entscheiden, welche Behandlung der Herzpatient nötig hat. Mehr und mehr Eingriffe, die früher von Herzchirurgen getätigt wurden, bewerkstelligen Kardiologen heute selber. Die Fallzahlen in der Kardiochirurgie sind generell um 30 bis 40 Prozent gesunken. 
«Wir wollen die Insel-Gruppe in der Spitze der weltbesten Universitätsspitäler positionieren, als Motor und Leuchtturm für die Gesundheitsversorgung der Schweiz insgesamt.» Dies sagte Uwe E. Jocham im Februar 2018 der Berner Zeitung. (Medinside berichtete hier).
Ob dazu der Kompetenzverlust der Klinikdirektoren der richtige Weg ist? Kritiker sehen in der Degradierung zum Befehlsempfänger eher einen Standortnachteil für die Zukunft, da diese Stellen für wirkliche Topleute nicht mehr attraktiv seien. Thierry Carrel ist einer der bekanntesten und renommiertesten Ärzte der Schweiz und war auch ein Aushängeschild des Inselspitals. Sein Wegzug zur Konkurrenz deckt den Konflikt auf zwischen Anspruch und Führungsrealität.
Thierry Carrel will sich auf Anfrage dazu nicht äussern. 

  • thierry carrel
  • insel gruppe
  • spital
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Zürcher Krankenhäuser und Versicherer haben sich geeinigt

Nun ist ein jahrelanger Streit beendet: Die Zürcher Spitäler vereinbaren mit Helsana, Sanitas und KPT einen Taxpunktwert von 93 Rappen - ein Kompromiss.

image

Balgrist-Team behandelt im Spital Männedorf

Das Spital Männedorf hat eine neue Klinik für Orthopädie und Traumatologie. Das Team kommt vom Balgrist.

image

Solothurner Spitäler: Bericht zu CEO-Lohn bleibt vorerst geheim

Noch ist unklar, ob Zusatzzahlungen an den Ex-Chef der Solothurner Spitäler rechtens waren. Der Bericht dazu ist da - aber nicht öffentlich.

image

Kispi wegen «Riesenfete» kritisiert – doch die Köche arbeiten gratis

Das überschuldete Kinderspital Zürich feiere seinen Neubau mit einem Michelin-Sternkoch, schreibt ein Online-Medium provokativ.

image

Weitere Umstrukturierung bei Hirslanden – Thomas Bührer in die Konzernleitung

Die Spitalgruppe schafft intern eine neue «Region Mittelland». Damit sollen die Versorgerregionen auch näher an der Konzernleitung sein.

image

«Architektur kann zu Heilung beitragen»

Das neue Kinderspital Zürich wurde heute eingeweiht. Am 2. November nimmt es seinen Betrieb am neuen Standort auf.

Vom gleichen Autor

image

Physiotherapie: Die Stolpersteine im Tarifstreit

Wie weiter im Tarifstreit in der Physiobranche? Die Frage ist: Welcher Streit – jener über die Tarifstruktur oder jener über den Preis?

image

So funktioniert die Sterbehilfe in Europa

In mehreren Ländern Europas ist die Sterbehilfe entkriminalisiert worden. Ein Überblick.

image

«Genau: Das Kostenwachstum ist kein Problem»

Für FMH-Präsidentin Yvonne Gilli ist klar: Es braucht Kostenbewusstsein im Gesundheitswesen. Aber es braucht keine Kostenbremse-Initiative.