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Seltene Krankheiten: Patientenversorgung gefährdet

Ab Januar 2024 gelten neue Regeln für die Einzelfallvergütung von Arzneimitteln. Die Änderungen sind einseitig auf Kosteneindämmung fokussiert. Sie gefährden den Zugang zu lebenswichtigen Therapien und stellen Spitäler und Ärzte vor ein Dilemma.

, 6. Oktober 2023 um 12:19
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Ende September hat der Bundesrat die Öffentlichkeit über die Prämienerhöhung informiert. Wenige Tage zuvor hat er die Modalitäten für die Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall geändert. Davon betroffen sind auch Patientinnen und Patienten die an seltenen Krankheiten leiden, deren Therapie mit innovativen Arzneimittelen oft sehr teuer ist.
Was sind die wichtigsten Änderungen?
  1. Standardisierte Nutzenbewertung: Die Bewertung des therapeutischen Nutzens soll neu auf Grundlage von standardisierten Nutzenbewertungsmodellen vorgenommen werden. Dadurch soll eine rechtsgleiche Behandlung aller Patientinnen und Patienten gewährleistet werden.
  2. Vorgeschriebene Rabatte: Ausgehend vom Preis der Spezialitätenliste oder dem Auslandpreis kommen auf die Vergütung in Prozenten verbindlich definierte Preisabstände zur Anwendung. Dadurch soll der Verhandlungsaufwand für Krankenversicherungen und Pharmaunternehmen reduziert und der Zugang der Patientinnen und Patienten zur Therapie beschleunigt werden.
  3. Begründungspflicht: Neu ist die Ablehnung einer Kostengutsprache gegenüber dem Arzt als auch dem Patienten zwingend zu begründen. Die Begründungspflicht will soll die Transparenz erhöhen. Die Begründung erlaubt dem betroffenen Patienten – aber auch dem behandelnden Arzt – sich gegen die Ablehnung der Kostengutsprache zur Wehr zu setzen und diese auf dem Rechtsweg anzufechten.
  4. Transparenz: Neu sind die Krankenversicherungen verpflichtet, das BAG über die von ihnen gewährten Einzelfallvergütungen zu informieren. Dazu haben sie jährlich über jedes Gesuch um Kostengutsprache zu berichten und dem BAG den Namen des Arzneimittels, die Indikation, die Nutzenbewertung sowie die Höhe der Vergütung bekannt zu geben. Diese Daten sind der Einsicht durch Dritte zugänglich. Die Anonymität der betroffenen Patientinnen und Patienten ist zu gewährleisten. Ein eigentliches Monitoring über die Wirksamkeit der Therapie ist demgegenüber nicht vorgesehen.
  5. Lieferengpässe: Ist ein Arzneimittel vorübergehend nicht mehr lieferbar, darf dieses unter bestimmten Umständen im Ausland beschafft und in die Schweiz eingeführt werden. Die Krankenversicherung hat die effektiven Kosten zu vergüten, die für die Ersatzbeschaffung anfallen. Zusätzlich darf der Leistungserbringer den in der Schweiz üblichen Vertriebsanteil und die Mehrwertsteuer in Rechnung stellen. Die Kostenübernahme bedarf keiner vorgängigen Kostengutsprache. Der Leistungserbringer hat lediglich den Lieferengpass im Zeitpunkt der Bestellung zu dokumentieren, wozu ein einfacher Printscreen aus dem Bestellsystem genügt.
Worum geht es?
Nicht alle durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) zu vergütenden Arzneimittel sind auf der Spezialitätenliste aufgeführt. Ausnahmsweise übernimmt die OKP auch die Kosten für überlebenswichtige Arzneimittel, die nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind und für die es keine Behandlungsalternative gibt., Als Ausnahme zur Vergütung der auf der Spezialitätenliste aufgeführten Arzneimittel will die Einzelfallvergütung den Betroffenen einen gleichberechtigten und raschen Zugang zu überlebenswichtigen Arzneimitteln ermöglichen, von denen ein hoher therapeutischer Nutzen in der Behandlung gegen eine schwere Krankheit erwartet wird, die jedoch (noch) nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind. Häufig handelt es sich dabei um Arzneimittel für die Behandlung von seltenen Krankheiten (Orphan Drugs), die in der Schweiz noch nicht zugelassen sind oder noch nicht in die Spezialitätenliste aufgenommen wurden.
Die Vergütung im Einzelfall erfordert eine Kostengutsprache der Krankenversicherung. Bei seinem Entscheid über die Kostengutsprache hat der Vertrauensarzt eine Nutzenbewertung vorzunehmen. Von den rund 38 000 Gesuchen um Kostengutsprache wurden 80 % bewilligt (2019). Allerdings bestehen grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Versicherungen. Entsprechend war es Ziel der Revision, die rechtsungleiche Behandlung der Patientinnen und Patienten durch die Krankenversicherungen, die unterschiedliche und aufwändige Preisfestsetzung und die fehlende Transparenz bei der Einzelfallvergütung zu beheben.
Wird die Revision ihr Ziel verfehlen?
Die standardisierte Nutzenbewertung ist aus Sicht der medizinischen Leistungserbringer die wichtigste Änderung . Dadurch soll ein rechtsgleicher Zugang zur Einzelfallvergütung gewährleistet werden. Die standardisierte Nutzenbewertung steht im Zusammenhang mit der Beurteilung des Härtefalles als Voraussetzung für die Kostengutsprache. Dazu müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Erstens muss von der Therapie ein grosser therapeutischer Nutzen zu erwarten sein, zweitens muss die zu behandelnde Krankheit schwere und chronische gesundheitliche Beeinträchtigungen verursachen, drittens darf kein anderes wirksames Arzneimittel auf der Spezialitätenliste aufgeführt sein. Die Anforderungen an den grossen therapeutischen Nutzen und die schweren und chronischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind wertungsbedürftig. Entsprechend können diese Kriterien unterschiedlich beurteilt werden. Der Bundesrat hat deshalb die Kategorien für die Bewertung des therapeutischen Nutzens verbindlich vorgegeben. Analog zu dem von den Vertrauensärzten entwickelten OLUTool (OLU = Off Label Use) soll der therapeutische Nutzen in Abhängigkeit zum therapeutischen Fortschritts beurteilt werden: Sehr grosser therapeutischer Nutzen (Nutzenkategorie A), grosser therapeutischer Nutzen (Nutzenkategorie B), erwarteter grosser therapeutischer Nutzen (Nutzenkategorie C) und moderater, geringer oder kein therapeutischer Nutzen (Nutzenkategorie D).
Die Einteilung in die Nutzenkategorie hat Auswirkungen auf die Vergütung: Eine Einzelfallvergütung ist ausgeschlossen, wenn ein nur moderater, geringer oder gar kein therapeutischer Nutzen zu erwarten ist (Nutzenkategorie D). Lässt die Evidenz ein klinisch relevantes Ansprechen erwarten und wird dieses im Rahmen eines Therapieversuchs auch tatsächlich nachgewiesen, ist die Einzelfallvergütung zu gewähren (Nutzenkategorie C). Das Gleiche gilt für die übrigen Fälle (Nutzenkategorien A und B). Der Unterschied besteht in den verbindlich vorgeschriebenen Preisabschlägen: Die Höhe der von den Pharmafirmen zu gewährenden Rabatte werden in Abhängigkeit des therapeutischen Nutzens festgelegt.
Massgebend für die Bewertung des therapeutischen Nutzens ist der therapeutische Fortschritt. Dieser ist sowohl in allgemeiner Weise als auch in Bezug auf den konkreten Einzelfall zu prüfen:
  1. In einem ersten Schritt sind die Studienqualität und –daten zu beurteilen. Nebst kontrollierten klinischen Studien können aber auch anderweitige veröffentlichte wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden, sofern sie wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über die Wirksamkeit der Therapie zulassen. Der therapeutische Fortschritt kann aufgrund unterschiedlicher Kriterien beurteilt werden wie die Verbesserung des Gesundheitszustandes, die Verkürzung der Krankheitsdauer, das verlängerte Überleben, die Verringerung von Nebenwirkungen und die Verbesserung der Lebensqualität.
  2. In einem zweiten Schritt sind individuelle, klinisch relevante Abweichungen von der allgemeinen Studienpopulation zu prüfen, wie beispielsweise das Krankheitsstadium oder die Krankheitssubgruppe.
Auch in Zukunft verbleibt dem Vertrauensarzt ein grosser Ermessensspielraum in der Bestimmung des therapeutischen Nutzens und damit auch im Entscheid über die Kostengutsprache. Umso wichtiger ist die Begründungspflicht durch die Krankenversicherungen. Der Begründung beizulegen ist die Nutzenbewertung durch den Vertrauensarzt. Dasselbe gilt, falls die Empfehlung eines klinischen Fachexperten eingeholt wurde. Diese ist bei seltenen Krankheiten erforderlich, wenn es an klinischen Studien fehlt.
Fragwürdig sind die Auswirkungen der vom Bundesrat verbindlich vorgeschriebenen Rabatte: Die Preisabschläge wollen gewährleisten, dass die Kosten in einem angemessenen Verhältnis zum therapeutischen Nutzen stehen. Entsprechend dem Zeitpunkt des Erlasses –- wenige Tage vor Bekanntgabe der massiven Prämienerhöhungen – steht die Eindämmung der Kosten zulasten der OKP im Vordergrund. Indessen sind die Zulassungsinhaberinnen frei in ihrem Entscheid, ob sie das Arzneimittel zu diesen Konditionen abgeben wollen oder nicht. Es besteht dazu keine Pflicht. Entsprechend trügerisch erweist sich die Erwartung, die hoheitlich festgelegten Preisabstände würde Pharmafirmen eher dazu motivieren, Schweizer Patientinnen und Patienten mit dringend benötigten Arzneimitteln zu versorgen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass dadurch der Zugang zu lebensrettenden Therapien unnötig verzögert oder ganz in Frage gestellt wird. Dies aus mehrfachen Gründen:
  1. Pharmafirmen sind keine Leistungserbringer und somit auch nicht zur Versorgung von Schweizer Patientinnen und Patienten verpflichtet. Die hoheitlich angeordneten Preisabstände haben Auswirkungen auf das internationale Preisgefüge. Pharmafirmen riskieren, dass die von ihnen in der Schweiz gewährten Rabatte im Ausland entgegengehalten werden, was sich nachteilig auf die dort auszuhandelnden Preise auswirkt.
  2. Entsprechendes gilt auch im Hinblick auf die inländischen Preisverhandlungen mit dem BAG. Auch hier besteht die Gefahr, dass die Preisabschläge die Konditionen für die Aufnahme in die Spezialitätenliste präjudizieren werden.
  3. Es ist ungewiss, wie die Preisabschläge überhaupt umgesetzt werden können: Ist ein Arzneimittel nicht bereits in die Spezialitätenliste aufgenommen, ist es unklar, wie die Rabatte zu berechnen sind. Mangels Aufnahme in die Spezialitätenliste fehlt es an einem Referenzpreis um die Preisabstände zu bestimmen.
  4. Betroffen sind aber auch die medizinischen Leistungserbringer. Für diese sind die finanziellen Einschränkungen wenig attraktiv. Die Vergütung ist nicht ausreichend, um den zusätzlichen Aufwand für die Beschaffung der Arzneimittel im Ausland zu decken: Bei teuren Arzneimitteln (Einkaufspreis von über CHF 2570) ist die Vertriebsmarge auf CHF 240 beschränkt. Diese verbindlich festgelegte Vergütung deckt nur der Aufwand für die Beschaffung von einem in der Schweiz an Lager gehaltenen Arzneimittel ab. Hingegen deckt die Vertriebsmarge nicht auch den zusätzlichen Aufwand für Beschaffung und Einfuhr eines in der Schweiz nicht verfügbaren Arzneimittels ab. Das gilt auch im Fall von Versorgungsengpässen, wenn ein Arzneimittel in der Schweiz vorübergehend nicht mehr lieferbar ist. Die auf die Vertriebsmarge beschränkte Vergütung ist deshalb ungenügend, um den zusätzlichen administrativen Aufwand abzugelten, wenn der Leistungserbringer das Arzneimittel für seine Patientinnen und Patienten im Ausland beschaffen muss. Es ist deshalb fraglich, ob Apothekerinnen und Apotheker auch in Zukunft noch bereit sein werden, diesen zusätzlichen Aufwand auf sich zu nehmen.
Aus diesen finanziellen Unsicherheiten können sich ernsthafte Probleme ergeben: Während sich Zulassungsinhaberinnen von einer Lieferung des Arzneimittels ohne Risiko distanzieren können, gilt gleiches nicht auch für Medizinalpersonen: Namentlich können diese unter Hinweis auf die ungedeckten Kosten nicht eine Therapie ablehnen, ohne sich wegen unterlassener Hilfeleistung auch strafrechtlich verantworten zu müssen. Diesbezügliche Klagen sind sowohl in Deutschland wie in Österreich erfolgreich eingebracht und alle zu Gunsten der Patientinnen und Patienten entschieden worden.
Vor diesem Hintergrund fragt es sich, ob die Revision überhaupt geeignet ist, ihr Ziel zu erreichen. Angesichts des massiven Prämienanstieges ist es nachvollziehbar, dass der Bundesrat um Kosteneindämmungen bemüht war. Aufgrund der finanziellen Unsicherheiten besteht nun aber die Gefahr, dass Patientinnen und Patienten noch länger auf die Therapie warten müssen als dies bisher bereits der Fall gewesen war – sofern ihnen diese überhaupt noch erhältlich gemacht wird. Damit wird der Zugang zu lebensrettenden oder dringend benötigten Therapien verschlechtert, womit die Revision ihr Ziel zu verfehlen droht.
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