Verschwendetes Potenzial: Der Preis der Bürokratie in den Spitälern

Könnte man den täglichen Papierkram in Medizin und Pflege um nur eine Stunde senken, so würde die Arbeitskraft von über 3000 Ärzten und 9000 Pflege-Profis frei. Eine Rechnung.

, 18. August 2024 um 22:00
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Gesundheitsfachleute mit wichtigen Arbeitsgeräten: Symbolbild Medinside (erstellt mit KI Midjourney)
Die Zahl ist ernüchternd. Aber eigentlich lässt sie hoffen, dass der Personalmangel in Medizin und Pflege im Grunde elegant zu lösen wäre. Die Rechnung geht so:
Sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch Pflegefachleute verwenden pro Arbeitstag drei Stunden mit Administration und Dokumentation. Dies eruierte die Deutsche Krankenhausgesellschaft DKG für die Spitäler im Nachbarland.
Damit wiederum hat ihre Forschungs-Organisation DKI eine simple Kalkulation angestellt: Würde man es schaffen, die bürokratische Belastung pro Arzt oder Pflegeprofi um nur eine Stunde täglich zu senken, so würden rund 21’600 Vollzeit-Beschäftigte im ärztlichen und etwa 47’000 Personen im Pflegedienst frei. Zumindest rein rechnerisch.

«Völlig ausser Kontrolle»

«Diese Fachkräfte stehen in der Zeit, in der sie die ausufernden Bürokratiepflichten erfüllen müssen, nicht der Patientenversorgung zu Verfügung», kommentiert die Krankenhausgesellschaft (also der Dachverband der deutschen Spitalorganisationen): «Die Dokumentation hat sich über viele Jahre von einer notwendigen Nebentätigkeit zu einer extremen Last entwickelt. Das Problem von medizinisch und pflegerisch viel zu oft nicht notwendiger Schreibarbeit ist völlig ausser Kontrolle geraten.»
Das kommt einem bekannt vor. Auch hierzulande haben die Spitalchefs, Praxen wie auch die Berufsleute ein Haupt-Ärgernis: die Papierarbeit fern vom Patienten.
So befanden im CNO-Barometer, bei dem die Beratungsfirma PwC die Chief Nursing Officers von 129 Schweizer Gesundheitsinstitutionen befragte, 47 Prozent der Expertinnen und Experten, dass die Pflege stärker von administrativen Diensten entlastet werden könnte.
Womöglich ist die Lage in der Schweiz nicht ganz so arg wie in Deutschland. Eine Erhebung, die 2019 bei gut 1’500 Ärzten aller Hierarchiestufen in Akutspital-, Reha- und Psychiatrie-Kliniken durchgeführt wurde, ergab etwas tiefere Werte: Danach betrug der Aufwand für «ärztliche Dokumentationsarbeit / Patientendossier» im Schnitt 20 Prozent der Arbeitszeit in den akutsomatischen Spitälern und Rehakliniken.
  • Bruno Trezzini, Beatrix Meyer, Melanie Ivankovic , Cloé Jans, Lukas Golder: «Repräsentative Befragung der Ärzteschaft im Auftrag der FMH. Der administrative Aufwand der Ärzteschaft nimmt weiter zu», Gfs Bern, in: «Schweizerische Ärztezeitung», Januar 2020.
Allerdings wurden bei dieser Fragestellung weitere bürokratische Belastungen nicht erfasst, beispielsweise die (oft als unnötig empfundenen) Rückfragen von Krankenversicherungen. Kommt hinzu, dass der administrative Aufwand seit jener Umfrage 2019 eher weitergewuchert ist. So dass wohl auf der sicheren Seite ist, wenn man einen Wert von 25 Prozent veranschlagt – etwas tiefer als im bürokratieberüchtigten Deutschland, aber immerhin.
Noch unklarer ist die Lage in der Pflege. Zwar sind die Klagen über die Papier-Belastung auch da eindeutig; doch es fehlt es an Studien, die das Problem zahlenmässig erfassen.

5 Wochenstunden bei 75'900 Pflegenden = …?

Für die deutschen Spitäler veranschlagen DKG und DKI den Admin-Aufwand in der Pflege gleich hoch wie bei den Ärzten – also bei einem Drittel der Arbeitszeit. «Ich finde das absolut realistisch und neige zur Ansicht, dass es in der Schweiz mindestens so viele Stunden sind, die von diplomierten Pflegefachpersonen pro Tag aufgewendet werden», sagt Yvonne Ribi, die Geschäftsführerin des Pflege-Berufsverbands SBK.
Oder anders: Wenn man hier helvetisch zurückhaltend ein Viertel der Arbeitszeit fürs Administrative veranschlagt, übertreibt man wohl kaum.
All dies wiederum bedeutet hochgerechnet: Würde man es schaffen, diese Zeiten um eine Stunde pro Tag zu kürzen, so käme das Potential von 3’000 Ärztinnen und Ärzten und 9’000 Pflege-Profis frei.
So zumindest nach einer überschlagsartigen Rechnung, die nicht tierisch ernst genommen werden darf. Denn selbstverständlich wäre es nicht möglich, all die gesparte Zeit vollumfänglich den Patienten respektive der Betreuung zukommen zu lassen. Sie könnte beispielsweise auch rationalisiert – also eingespart – werden.
Und: «Bei uns bedeutet der Bürokratieabbau kein Stellensparen, sondern endlich zeitgemässere Arbeitszeiten für die Ärzteschaft, da immer noch viele 50h plus pro Woche arbeiten», so etwa die Einschätzung des VSAO.

  • Der Nationalrat stimmte im Mai 2024 einer Motion der SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler zu, die verlangt, dass die Bürokratie-Zeit in den Pflegeberufen maximal 10 Prozent der Arbeitszeit beträgt. Das Geschäft ist nun im Ständerat. Der Bundesrat sprach sich dagegen aus – insbesondere mit dem Argument, dass solche Fragen nicht in der Kompetenz des Bundes liegen.
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