Ein Spital ist keine Kathedrale

Niemandem ist mit dem Spital ein Denkmal zu setzen, auch dem Stararchitekten oder der Gesundheitsdirektorin nicht.

, 14. Januar 2023 um 07:00
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Für Annamaria Müller ist es unverständlich, weshalb jedes Haus so tut, als würde es den Spitalbau neu erfinden. | zvg
Spitäler gehören zu den drei Gebäudestrukturen, die den Charakter «ewiger Baustellen» haben. Die beiden anderen sind Flughäfen und Kathedralen. Ausgelöst wurde die Bauwut durch die Umstellung der Spitalfinanzierung vor rund zehn Jahren. Sie befreite die öffentlichen Spitäler vom Joch der kantonalen Bauplanung und leitete einen Boom ein, den die Autorin stirnrunzelnd als «Spitalblase» bezeichnete. Denn auch die Privatspitäler liessen sich nicht lumpen und fuhren grossflächig die Bagger auf.
Wo stehen wir jetzt? Viele Bauvorhaben wurden umgesetzt, einige stecken mittendrin, andere stehen davor und wieder andere sind bereits wieder am Umbau (nach dem Bau ist bekanntlich vor dem Bau). Doch die Zeiten haben sich geändert. Und zwar dramatisch.

«Spitäler gehören zu den drei Gebäudestrukturen, die den Charakter ewiger Baustellen haben. Die beiden anderen sind Flughäfen und Kathedralen.»

Die Pandemie ist den Spitälern finanziell und strukturell an den Karren gefahren. Lieferengpässe und kriegsbedingte Energiekrise haben die Preise in die Höhe schnellen lassen. Der Fachkräftemangel zwingt zur Bettenschliessung, während das Volk die Notfallaufnahmen überrennt. Das Grossprojekt eines ehemaligen Vorzeigespitals knickt ein, seine Druckwelle spült Aufsichtsratsmitglieder weg. Spitalverantwortliche raufen sich die Haare, Politiker und Meinungsbildner raufen munter mit.
Was hat, was wie ein verspätetes 2012-Horrorszenario klingt, mit dem Spitalbau zu tun? Nun, einiges. Es hat indes weniger mit Finanzen zu tun als vielmehr mit Dynamiken.
Zunächst einmal wird die Funktion der Spitäler als «letzte Bastion der Gesundheitsversorgung» in absehbarer Zeit eher zu- als abnehmen. Die Anzahl niedergelassener Arztpersonen schwindet progressiv. Viele Praxen haben einen Aufnahmestopp für neue Patintinnen und Patienten. Wohin gehen die Leute? Ins Spital! Notfalleinweisungen, mit denen lange Wartezeiten vermieden werden sollen, tun das Ihrige.

«Der Engpass in der Betreuung betagter, mehrfacherkrankter Personen wird sich noch verstärken.»

Die Dynamik betrifft aber nicht nur den Zulauf, sondern auch den «Ablauf». Konkret die sogenannten «Wartepatienten», auf die leider ausserhalb des Spitals niemand wartet. Der Engpass in der Betreuung betagter, mehrfacherkrankter Personen wird sich noch verstärken: Durch Auflösung althergebrachter Familienstrukturen und Geschlechterrollen (weil Millenials lieber arbeiten gehen), durch Fachkräftemangel im Sozial- und Langzeitbereich (weil Gen-Z lieber etwas anderes arbeiten) und durch den drohenden «Alterstsunami» (weil die Boomer-Generation nicht mehr arbeitet). Wo bleiben die Leute? Im Spital.
Schliesslich wird auch der «Durchlauf» dynamischer. Spitalaufenthalte werden facettenreicher, Bedürfnisse müssen abgedeckt werden, die nicht dem klassischen akutsomatischen Behandlungsspektrum entsprechen. Psychische Störungen müssen aufgefangen, (früh-)rehabilitative Therapien angeboten werden, viele Behandlungen oszillieren zwischen ambulant und stationär, Vor- und Nachsorge ist zu organisieren. Wo spielt sich dies ab? Im Spital!
Wobei wir bei einer weiteren Dynamik wären: Gesundheitsfachpersonal ist, im Gegensatz zur Infrastruktur, hochmobil. Arztpersonen lernen bereits in ihren Lehr- und Wanderjahren die Eingeweide diverser Spitäler kennen – und vielfach hassen. Unzeitgemässe Infrastrukturen, verschlungene Wege, komplizierte Abläufe, ineffiziente Verfahren, überall mühsam und überall anders. Dem übrigen Personal geht es nicht anders. Und wenn es ihm nicht passt? Geht es ein Haus weiter…

«Es ist für mich unverständlich, weshalb jedes Haus so tut, als würde es den Spitalbau neu erfinden. Ein Spital ist keine Kathedrale!»

Auf einen Nenner gebracht: Alle Häuser schlagen sich mit grundsätzlich denselben Problemen herum, die sich grundsätzlich auf dieselbe Art lösen lassen: Durchlässige, plurifunktionale und flexible Infrastrukturen, kurze Wege, praktische Verfahren, weitmöglichst vereinheitlicht. Es wurde viel gebaut, viel falsch gemacht, viel gelernt und viel verbessert. Es besteht ein Wissen und ein Können, um den Spitalbau und die Spitalinfrastruktur «seriell» herzustellen, angepasst auf spezifische Gegebenheiten und Bedürfnisse.
Darum ist es für mich unverständlich, weshalb jedes Haus so tut, als würde es den Spitalbau neu erfinden. Ein Spital ist keine Kathedrale! Niemandem ist damit ein Denkmal zu setzen, auch dem Stararchitekten oder der Gesundheitsdirektorin nicht. Ein Spital ist auch kein Flugplatz – auch wenn es darin manchmal zu- und hergeht wie in einer Abflughalle. Ein Spital ist eher wie eine Migros. Das Personal kennt sich aus, der Kunde weiss, wo sich die Dinge befinden (ausser der Zitronensaft, der versteckt sich immer). Ich wünsche mir ein Spital ab Stange, standardisiert und günstig. Um eine individuelle Note zu setzen kann man es immer noch bunt anmalen.
Annamaria Müller ist Präsidentin Schweizer Forum für Integrierte Versorgung (fmc) und Verwaltungsratspräsidentin der Freiburger Spitäler HFR.

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