Physiotherapeuten gehören unter den Gesundheitsfachleuten sicherlich nicht zu den Grossverdienern. Und doch könnte man es meinen, will doch der Bundesrat ausgerechnet ihnen den Tarif kürzen.
Darüber ist schon viel geschrieben worden. Der Berufsverband Physioswiss sammelte eifrig Unterschriften für eine Petition: Am 17. November 2023 wurden über 280'000 Unterschriften der Bundeskanzlei übergeben –
und 10'000 Personen versammelten sich zur Unterstützung.
Aktuelle Studie
Also: Wieviel verdienen Physiotherapeutinnen wirklich? Und wie wirkt sich der umstrittene Tarifeingriff konkret aus?
Gemäss einer neueren Studie von Ecoplan, datiert vom 9. Mai 2023, kommen Physiotherapeutinnen im Schnitt auf einen Stundenumsatz von 60 Franken – und eben nicht Stundenlohn, wie verschiedentlich kolportiert wird. Vom Umsatz müssen unter anderem Miete, Löhne, Versicherungen abgezogen werden.
Im Wesentlichen können Physiotherapeuten mit zwei Tarifpositionen abrechnen: 7301 für gewöhnliche und 7311 für aufwändige Fälle.
Tarifposition 7301
Zuerst zur Tarifposition 7301: Seit 1997 ergibt sie unverändert 48 Taxpunkte. Der Taxpunktwert wiederum variert von Kanton zu Kanton. In Zürich und Zug beträgt er 1,11; in Graubünden 0,94. In allen anderen Kantonen liegt er irgendwo dazwischen.
Will heissen, in Zürich erhalten Physios für eine gewöhnliche Behandlung 53,28 Franken; in Graubünden 45.12 Franken. Was heisst nun gewöhnliche Behandlung? Normalerweise beträgt sie 30 Minuten, wobei das nirgends so geschrieben steht. In der Leistungspauschale fehlt die Zeitkomponente.
Dauert die Behandlung nur 20 Minuten, gibts für die oder den Physio ebenfalls den normalen Tarif. Genau das wollen der Bundesrat und erst recht die Krankenkassen ändern. Sie wollen für 20-minütige Behandlungen nicht gleich viel bezahlen wie für 30-minütige.
Tarifposition 7311
Problematischer ist die Tarifposition 7311. Sie ergibt 77 Taxpunkte. Will heissen, in Zürich gibts für eine Behandlung 85,47 Franken, in Graubünden 72,38 Franken.
Warum problematischer? Weil davon ausgegangen wird, dass die Behandlung 45 Minuten dauert, was jedoch häufig eben nicht der Fall sein soll. Das behaupten zumindest die Krankenkassen. Gemäss der genannten Ecoplan-Studie beträgt die Dauer einer aufwendigen Behandlung im Durchschnitt 40 Minuten; 10 Minuten für den Patienten kommen noch hinzu.
«Keine Kostensenkung»
In der zurückliegenden Herbstsession wurde Bundesrat Alain Berset in der Fragestunde von allen Lagern angeschossen. Als Antwort sagte er unter anderem: «Mit der vorgeschlagenen Anpassung der Tarifstruktur ändert der Bundesrat nichts an der aktuellen Abgeltung für physiotherapeutische Leistungen und somit auch nichts an der Kostendeckung.»
Am Umsatz einer Praxis würde der Vorschlag des Bundesrates nur dann etwas ändern, so Alain Berset, wenn die Sitzungen im Durchschnitt aktuell deutlich weniger als 30 Minuten dauern, trotzdem aber immer die Pauschale für die allgemeine Physiotherapie abgerechnet werde. «Dies stellt aber nicht ein Problem des Tarifs respektive der vorgeschlagenen Anpassungen, sondern der Abrechnungspraxis der Physiotherapeuten dar», sagte der Bundesrat.
Kostenmodell von 1997
Doch wahrscheinlich ist nicht die Abrechnungspraxis das Problem, sondern das aus dem Jahr 1997 stammende Kostenmodell mit den beiden überholten Tarifpositionen.
Der Tarif in der Physiotherapie basiert auf einem Kostenmodell von 1997, die Datengrundlage dafür stammt aus dem Jahr 1994. «Es fand keine Anpassung des Kostenmodells in den letzten 25 Jahren statt und keine nennenswerte Tariferhöhung oder Anpassung an die Teuerung», sagt
Physioswiss-Präsidentin Mirjam Stauffer im Gespräch mit Medinside. Die letzte Tariferhöhung datiert aus dem Jahr 2016. Sie hat zu einer Tarifanpassung um durchschnittlich 8 Rappen geführt.
Sinkende Produktivität
Dass die Datengrundlage von damals den heutigen Realitäten nicht mehr entspricht, zeigt auch folgendes Beispiel: 1997 ist man von einer Produktivität von 83 Prozent ausgegangen. Damit wurde 17 Prozent der Arbeit in Abwesenheit des Patienten erledigt, was über die Pauschale abgegolten werden muss.
Gemäss der genannten Studie ist aber die Arbeit in Abwesenheit der Patienten auf 40 Prozent angewachsen. 17 Prozent werden mit der Pauschale abgegolten; 23 Prozent der totalen Arbeitszeigt werden heute nicht vergütet.
Tarifpartner
Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich die Tarifpartner nicht auf eine neue Tarifstruktur zu einigen vermochten. Das hat womöglich auch damit zu tun, weil
Physioswiss die von den Krankenkassenverbänden verlangten Leistungs- und Kostendaten nicht flächendeckend zu liefern vermochte. Und wenn sich die Tarifpartner nicht einigen können, spricht der Bundesrat schliesslich ein Machtwort, wie das seine Aufgabe ist.
Teflon-Bundesrat
Dass Alain Berset den Vorschlag der Krankenkassen übernimmt und ausgerechnet bei den Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten eine Kostensenkung verordnet, könnte wohl damit zusammenhängen, dass der abtretende Gesundheitsminister zum Schluss seiner Amtszeit doch noch eine Massnahme gegen die anhaltenden Kostensteigerungen präsentieren wollte. Dass das nichts bringt und die Falschen trifft, wird beim Teflon-Bundesrat genauso abprallen wie all die anderen Fehltritte, die sich der eloquente Romand in all den Jahren zu leisten erlaubte.