Frau Steiner, dieses Mal kam die Top-5-Liste des Vereins Smarter Medicine aus den Gefilden der Geburtshilfe. Gab es Reaktionen aus der Branche und wenn ja, wie fielen diese aus?
Wir sind sehr froh um die vielen positiven Äusserungen. Besonders die Akzeptanz und die Gratulationen von Seiten unserer ärztlichen Kolleginnen und Kollegen aus der Geburtshilfe und Gynäkologie hat uns sehr gefreut.
Wie schwierig oder einfach war es, diese fünf Behandlungen für die Liste festzulegen?
Der Schweizerische Hebammenverband hat sich für einen partizipativen Ansatz entschieden. Will heissen: Unsere Arbeitsgruppe hat dreizehn Themen vorsondiert und den Verbandsmitgliedern zur Abstimmung vorgelegt.
Weckte diese Abstimmung grosses Interesse?
Mitwirken zu können, war für viele Hebammen offenbar eine Herzensangelegenheit. Von den rund 3400 angefragten Mitgliedern haben zirka 1300 abgestimmt. Das ist eine gute Bilanz.
Gab es im Vorfeld und während der Abstimmung keine Diskussionen?
Doch klar gab es Diskussionen – die Thematik betreffend die Über- und Fehlversorgung ist ein sensibles Thema. Letztlich hat sich eine Mehrheit für die veröffentlichten fünf Empfehlungen ergeben. Das ist der grosse Vorteil des partizipativen Ansatzes.
Die fünf Punkte sollen als Empfehlung gelten. Welche gilt unter den Hebammen als besonders heikel?
Die Wehenunterstützung mit Medikamenten während einer Geburt. Doch selbst bei diesem Thema waren sich letztlich die meisten Hebammen einig, dass diese ein Problem darstellt.
Können Sie das bitte konkretisieren?
Geht die Geburt nicht den Vorstellungen entsprechend voran, ist es inzwischen leider zur Gewohnheit geworden, den Vorgang mit Medikamenten zu unterstützen. Dies geschieht häufig mittels einer Infusion, die das Medikament Oxytocin enthält. Das in seiner natürlichen Form als Kuschelhormon bekannte Hormon löst Wehen aus.
«Das Problem ist, dass die medikamentöse Wehenunterstützung bei vielen zur Routine geworden ist. Das darf nicht sein und erfordert ein Umdenken.»
Wehen sollten aber nur dann unterstützt werden, wenn der Geburtsverlauf tatsächlich verzögert ist und andere Methoden zur Wehenunterstützung nicht gewirkt haben Spontane Wehen sind für Mutter und Kind sicherer und fördern bei beiden die kurz- und langfristige Gesundheit. Das Problem ist, dass die medikamentöse Wehenunterstützung bei vielen zur Routine geworden ist. Das darf nicht sein und erfordert ein Umdenken.
Wenn keine Medikamente gegeben werden sollen, welche anderen Massnahmen kann eine Hebamme ergreifen, um die Wehen natürlich zu unterstützen?
Handelt es sich tatsächlich um einen verzögerten Geburtsfortschritt gibt es verschiedene wehenfördernde Methoden: Unterstützend wirken ein Positionswechsel oder etwas Bewegung; auch die Energiezufuhr mittels einer kleinen Mahlzeit und einem Getränk kann hilfreich sein. Je nach geburtshilflicher Situation könnte es sogar eine Option sein, die Fruchtblase künstlich zu öffnen.
Eine weitere unnötige Behandlung ist die künstliche Geburtseinleitung. Ist diese etwa auch zur Gewohnheit geworden?
Das würde ich so nicht sagen. Wichtig ist: Die aktuelle Studienlage zeigt, dass künstliche Einleitungen vor der 39 Schwangerschaftswoche die Risiken für das Kind signifikant erhöhen und zu Komplikationen führen können. Solche Massnahmen sollten deshalb nur eingeleitet werden, wenn sie einen medizinischen Hintergrund haben.
«Wenn eine Mutter weiss, dass sie ihr Kind mit einer künstlich eingeleiteten Geburt einem Risiko aussetzt, sieht sie vielleicht davon ab.»
Es sollte nicht sein, dass die Geburt eingeleitet wird, nur weil das medizinische Personal in die Ferien geht oder die Mutter schlecht schläft und keine Lust mehr hat. Die Mütter sollten hier unbedingt gut beraten sein. Wenn eine Mutter weiss, dass sie ihr Kind damit einem höheren Risiko für Anpassungsstörungen nach der Geburt aussetzt, sieht sie vielleicht von einer Einleitung auf Wunsch ab. Letztlich ist es aber der Entscheid der Mutter. Das gilt auch für den geplanten Kaiserschnitt.
Geplante Geburten sind vor allem bei Celebritys beliebt, oder sind diese generell ein Trend?
Bei diesem Thema sind wir Hebammen sehr zurückhaltend. Manche Frauen, die sich für einen geplanten Kaiserschnitt entscheiden, haben einen sehr persönlichen Grund dafür, den wir nicht kennen. Deshalb würden wir einen solchen Wunsch niemals in Frage stellen. Auch hier ist die Beratung das wichtigste Element. Allerdings können routinemässige Kaiserschnitte gewisse Risiken für die Mutter erhöhen. Routinemässig heisst, dass nach einem ersten Kaiserschnitt auch beim zweiten oder dritten Kind eine Schnittentbindung empfohlen wird, ohne dass es hierfür einen klaren medizinischen Grund gibt.
Was macht diese so gefährlich?
Mehrere routinemässige Kaiserschnitte hintereinander sind mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität für die Mütter verbunden. Hierzu gehören nach einem ersten Kaiserschnitt insbesondere Komplikationen mit der Plazenta während der Folgeschwangerschaften sowie ein höherer Blutverlust oder chirurgische Komplikationen. Frauen, die beim ersten Kind einen Kaiserschnitt hatten, sollten beim zweiten Kind nicht automatisch in den OP.
Ein grosses Thema bei Schwangeren ist auch der Dammschnitt, der an manchen Orten noch immer routinemässig durchgeführt geführt wird. Unnötig, sagt der Hebammenverband. Keine Frau will aber, dass es da unten reisst …
Viele Frauen gebären ohne Verletzungen, auch bei einer ersten Geburt. Und wenn es zu einer Verletzung kommt reisst es in der Regel dort, wo es reissen darf. Dass Risse durch einen Dammschnitt verhindert werden können, ist ein Ammenmärchen. Zu dem Thema gibt es übrigens zahlreiche Studien mit dem Fazit, das eine routinemässige Episiotomie mehr schadet als nützt. Ein Riss stellt im Vergleich zu einem Dammschnitt meist eine leichtere Verletzung dar und heilt in der Regel sehr gut.
Was verspricht sich der Verband nun von der Top-5-Liste?
Wir hoffen, dass wir Hebammen aber auch Frauen damit sensibilisieren können. Finden Diskussionen zu diesen Themen statt, haben wir bereits viel gewonnen.
Gäbe es einen sechsten Punkt auf der Liste – welcher wäre das?
Mir persönlich fallen hier mehrere Punkte ein. Über den Daumen geschlagen sind es sicherlich noch etwa zwanzig Themen, die angegangen werden sollten. Wir werden, Stand heute, mit Sicherheit noch eine zweite oder dritte Top-5-Lister herausgeben, gerne auch gemeinsam mit weiteren Berufsgruppen. Es gibt definitiv noch viel zu tun.
Zur Person:
Anne Steiner ist Hebamme (MSc, EMBA) und seit 2019 Verantwortliche für Qualität und Innovation beim Schweizerischen Hebammenverband (SHV). Daneben arbeitet die 49-Jährige im Kantonsspital Aarau. Sie ist verheirtatet und hat vier Kinder.