Das Kantonsgericht Freiburg hatte in erster Instanz zu beurteilen, ob es sich beim Sehnenriss eines Gemüsebauern aus Kerzers juristisch um eine Krankheit oder um einen Unfall handelt.
Dem 47-jährigen Unfallopfer Andreas Tschachtli ist ein Ventilator beim Montieren aus den Händen gerutscht. Beim Versuch, das 100 Kilogramm schwere Gerät aufzufangen, macht er eine ungeschickte Bewegung; zudem fällt ihm der Venti mit voller Wucht auf die Schulter. Der
SonntagsBlick hat in seiner aktuellen Ausgabe darüber berichtet.
Sympany verneint Kausalität
Via seinen Arbeitgeber ist Tschachtli bei Sympany gegen Unfall versichert. Sympany schreibt dem Patienten, der beratende Arzt sei zum Schluss gekommen, der Sehnenriss sei «überwiegend wahrscheinlich» auf degenerative Veränderungen zurückzuführen. «Die Leistungspflicht setzt voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden ein Kausalzusammenhang besteht.»
Gerade dieser Kausalzusammenhang ist aber für Jean-Pierre Cordey unbestritten. Der Chiropraktor aus Bern hat den verletzten Gemüsebauer als erster untersucht und dem Schulterspezialisten Richard Nyffeler vom Berner Sonnenhofspital überwiesen. Cordey war es auch, der den Gemüsebauer dazu ermunterte, die Verfügung von Sympany nicht zu akzeptieren und den Fall ans Verwaltungsgericht in Freiburg zu ziehen.
Vieles spricht gegen Sympany
Laut Jean-Pierre Cordey kann nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, dass die RM-Läsion im Fall Tschachtli degenerativer Kausalität sein sollte. Dies schreibt er dem Gericht in einer Gegendarstellung, die Medinside vorliegt. Folgende Punkte seien zu beachten:
- Bei gegebener Listendiagnose ist die Beweislast der überwiegenden Wahrscheinlichkeit beim Versicherer
- Kein vorbelastender Gesundheitszustand
- Alter nicht über 60
- Gegebener traumatogener Verletzungsmechanismus
- Gegebene sofortige, akute Funktionseinschränkung entsprechend einer «Pseudoparalyse»
- Fehlendes Kriterium einer relevante Arthrose
- Fehlendes Kriterium der degenerativen Verfettung der Sehne
Doch der Sozialversicherungsgerichtshof des Kantonsgerichts Freiburg glaubt dem Unfallversicherer beziehungsweise seinem beratenden Arzt Jürg Bichsel von Consunamed in Giubiasco. Bemerkenswert ist die Begründung: «In Bezug auf Berichte von Hausärzten darf und soll der Richter der Erfahrungstatsache Rechnung tragen, dass Hausärzte mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zugunsten ihrer Patienten aussagen», steht im Gerichtsurteil vom 1. Mai 2020 zu lesen.
Kein Wort ist indessen darüber zu lesen, dass auch beratende Ärzte aufgrund ihrer auftragsrechtlichen Abhängigkeit eher zugunsten der Versicherung urteilen.
Orthopäden kamen nicht zu Wort
Kommt hinzu, dass die Richter in Freiburg keinen Orthopäden konsultierten, sondern allein Jürg Bichsel vertrauten, einem Facharzt für innere Medizin. Wie im Gerichtsurteil zu lesen steht, sind laut Bichsel nur 5 Prozent aller nicht von einer Schulterluxation begleiteten Rupturen traumatischer Natur.
Richard Nyffeler
«Wer behauptet, dass abgesehen von den luxationsbedingten Rotatorenmanschettenrupturen nur gerade 5 Prozent unfallbedingt sind, kennt die Literatur nicht und behandelt selber auch keine Patienten mit Rotatorenmanschettenrupturen.»
«Wer behauptet, dass abgesehen von den luxationsbedingten Rotatorenmanschettenrupturen nur gerade 5 Prozent unfallbedingt sind, kennt die Literatur nicht und behandelt selber auch keine Patienten mit Rotatorenmanschettenrupturen.» Das sagt Richard Nyffeler vom Sonnenhofspital, der Andreas Tschachtli operierte. Für ihn besteht kein Zweifel, dass der Sehnenriss auf das Ereignis zurückzuführen ist.
Subscapularissehne ist gerissen
Gegenüber Medinside erklärt Nyffeler, es sei nicht entscheidend, dass der Ventilator auf die Schulter gefallen sei. Entscheidend sei vielmehr, dass Andreas Tschachli dies verhindern wollte. «Beim Versuch, den Ventilator aufzufangen, wurde seine Schultermuskulatur stark beansprucht, insbesondere die Subscapularissehne, welche gerissen ist», erklärt Nyffeler, nachdem er das Gerichtsurteil gelesen hat. Würde nur vom Aufprall des Ventilators auf der Schulter gesprochen, wäre dem beratenden Arzt recht zu geben.
Gefragt ist organspezifisches Wissen
«Der Vertrauensarzt kennt die heute gültige Literatur offensichtlich nicht», sagt auch der 67-jährige Schulterorthopäde Christoph Stoller, der das Gerichtsurteil ebenfalls gelesen und auch die Röntgenbilder gesehen hat. Er weist explizit darauf hin, dass Vertrauensärzte von Versicherungen zumindest ein fach- oder noch besser ein organspezifisches Wissen und darin auch die entsprechende praktische Erfahrung haben müssten, sonst fehle der erforderliche medizinische Sachverstand.
Christoph Stoller
«Der Vertrauensarzt kennt die heute gültige Literatur offensichtlich nicht.»
Das sieht auch Martin Lorenzon so. In einem Interview mit dem
SonntagsBlick erklärt der Ombudsmann der Privatversicherung und der Suva, «dass wir immer sehr genau hinschauen, ob der Vertrauensarzt der Versicherungsgesellschaft über die nötige Qualifikation verfügt. Also wenn es um einen Eingriff an der Schulter geht, so braucht es dazu die Einschätzung eines auf Schultern spezialisierten Orthopäden.»
Nach Veröffentlichung des Urteils schreibt Jean-Pierre Cordey dem Gericht: «Ich kann mir objektiv gesehen nicht erklären, dass Sie bei einem so komplexen orthopädischen Problem nicht die Hilfe von Spezialisten anfordern. Hingegen stützen sie Ihre Argumentation auf die veraltete Meinung eines Facharztes für Innere Medizin, statt den neuesten Erkenntnissen der namhaftesten Professoren für Traumatologie und Schulterchirurgie der Schweiz Glauben zu schenken.»
Dies sieht Jürg Bichsel, Vertrauensarzt SGV, anders: Es gebe relevante Unterschiede zwischen Versicherungsmedizin und der klinischen Tätigkeit, sagt er auf Anfrage: «Es bedarf als Gutachter nicht nur Fachwissen, sondern auch versicherungsmedizinisches Wissen.»