Am Kantonsspital Baden (KSB) sind vier Spitalseelsorger beschäftigt, je zwei reformierte und zwei katholische mit einem Gesamtpensum von 250 Stellenprozenten. Der reformierte Pfarrer Heiko Rüter und der katholische Seelsorger Jürgen Heinze empfangen Medinside im Andachtsraum des KSB.
Herr Rüter, der Karfreitag ist der höchste Feiertag der reformierten Kirche. Spüren Sie vor Ostern eine erhöhte Nachfrage nach Ihrer Dienstleistung?
Heiko Rüter (ref.): Ich habe nicht den Eindruck, dass wir im Spital wegen Ostern mehr gefragt werden. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass in einem Akutspital die Krankheit oder der Unfall im Vordergrund stehen und der Jahreslauf dahinter zurücktritt. Weder an Ostern noch an Weihnachten nehme ich eine erhöhte Nachfrage wahr.
Herr Heinze, gehen Sie aktiv auf die Patienten zu oder warten sie, bis nach Ihnen gefragt wird?
Jürgen Heinze (kath.): Sowohl als auch. Einerseits gibt es das, was wir aufsuchende Seelsorge nennen, meistens nachdem wir uns vorher bei der Pflege informiert haben. Oder aber wir werden von der Pflege oder vom ärztlichen Personal angerufen.
Und wird dann nach dem reformierten oder dem katholischen Seelsorger verlangt oder einfach nach dem Pfarrer?
Rüter (ref.): Dass ausdrücklich nach einem katholischen Seelsorger verlangt wird, kommt ab und zu vor. Dass aber ausdrücklich ein reformierter Pfarrer verlangt wird, ist zumindest mir noch nie passiert.
Wie ist es, wenn eine sterbenskranke Katholikin – oder ihre Angehörigen – nach der letzten Ölung, der Krankensalbung, verlangen? Das ist ja ein Sakrament, das nur von katholischen Priestern gespendet werden darf.
Rüter (ref.): Wenn der Wunsch geäussert wird, mache ich transparent, dass ich als reformierter Pfarrer nicht das katholische Sakrament feiern kann. Und sage aber dazu: Ich feiere gerne eine Krankensegnung mit Ihnen, wie ich das von meinen katholischen Kollegen gelernt habe. In vielen Fällen ist das für Patientinnen und Angehörige in Ordnung. Manche sagen aber auch: Es wäre für uns wichtig, dass ein Priester kommt. Und dann bemühen wir uns darum, dass ein Priester für die Krankensalbung ins Spital kommt.
Herr Heinze, Sie sprachen vorhin von der aufsuchenden Seelsorge. Wie wählen Sie die Patienten aus, die Sie aufsuchen wollen?
Heinze (kath.): Für mich ist zum Beispiel die Aufenthaltsdauer ein Kriterium. Wenn ich sehe, jemand ist schon mehr als eine Woche da, dann ist das mit dem Gedanken verbunden, dass es eine grössere Krise sein könnte.
Dann werden Sie mit offenen Armen empfangen?
Heinze (kath.): Die Resonanz ist unterschiedlich. Manche Leute schätzen das und nützen die Chance, mit einer aussenstehenden Person zu sprechen. Manche Leute sagen: Schön, dass Sie da waren, aber ich habe eigentlich nichts, was mich beschäftigt. Oder sie sagen: ich habe andere Sorgen als Seelsorge.
Ich könnte mir vorstellen, dass es ein Unterschied ist, ob ich alleine mit Ihnen rede oder in einem Viererzimmer.
Rüter (ref.): Auch da sind Menschen unterschiedlich: Manche erzählen sehr offen, und ich mache sie darauf aufmerksam, dass andere zuhören. Viele kümmert das nicht weiter. Und bei anderen merkt man schon, dass sie verhalten sind. Dann kann man auch in den Aufenthaltsraum gehen. Mit mobilen Menschen ist das überhaupt kein Problem. Manchmal wird die Pflegefachperson der Person in den Rollstuhl helfen oder sie unter Umständen sogar mit dem Bett in einen anderen Raum bringen. Das sind Ausnahmen. Aber es gibt sie.
Heinze (kath.) Die Privatsphäre reduziert sich in einem Mehrbettzimmer auf ein Minimum. Bei Visiten und Pflegebehandlungen wird ja auch gesprochen.
Werden Sie bei Todesfällen automatisch aufgeboten?
Heinze (kath.): Nein, und dies hat vermutlich unterschiedliche Ursachen. Ich denke, es ist nicht jeder Sterbefall für Angehörige – jetzt möchte ich vorsichtig formulieren – eine übergrosse Belastung, in der seelsorgerlicher Beistand gewünscht wird oder angemessen ist. Wir werden dann geholt, wenn es jemand wünscht.
Rüter (ref.): Oder wenn die Pflegefachperson uns meldet, dass ein Angehöriger den Boden unter den Füssen verliert und uns dann bittet, zu schauen, ob wir unterstützen können.
Heinze (kath.): Der Tod ist auch ein sehr intimer Moment. Da möchten Angehörige gerne auch mal für sich sein. Da ist man manchmal froh, nicht gestört zu werden.
Die Landeskirchen sind mit Austritten konfrontiert. Wie schlägt sich dieser Trend in Ihrer Arbeit nieder?
Heinze (kath.): Den Bedeutungsverlust der kirchlich gelebten Religiosität merken wir schon – was nicht automatisch heisst, dass Seelsorge weniger wichtig wird, weil sich auch ihre Gestalt verändert. So ist das Durchschnittsalter der Personen, zu denen wir gerufen werden, sicher höher als das Durchschnittsalter aller Patientinnen und Patienten. Ein zweiter Faktor ist die Verringerung der Aufenthaltsdauer.
Als ich 1999 im Claraspital in Basel meine erste Seelsorgerstelle antrat, lag die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei ungefähr elf Tagen. Heute ist es vielleicht noch die Hälfte. Der Spitalaufenthalt hat sich verdichtet, was es manchmal schwierig macht, ein Zeitfenster zu finden.
Und noch ein dritter Faktor: Nicht zuletzt durch die Einführung der Fachangestellten Gesundheit hat sich auch das Durchschnittsalter der Pflegenden verringert. Und da merken wir natürlich auch, dass inzwischen viele Personen im Spital arbeiten, die keine religiös-kirchliche Sozialisation mehr erlebten.
Rüter (ref.): Als ich hier angefangen habe, sind mehr Patientinnen und Patienten zum Gottesdienst gekommen. Das hat klar abgenommen. Es gibt immer wieder Sonntage, da kommen keine Patientinnen und Patienten zum Gottesdienst, aber einige Leute aus der Umgebung. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Patienten weniger lange im Spital liegen. Wer sich soweit erholt hat, dass es überhaupt denkbar ist, an einem Gottesdienst teilzunehmen, ist heute oft bereits wieder zuhause oder in der Reha. Dass aber die Bedeutung der Kirche abgenommen hat, merke ich auch daran, dass ich früher häufiger zur Krankensalbung gerufen wurde als heute.
Ich habe mir sagen lassen, heute liege bei der Spitalseelsorge nicht mehr die Religiosität im Vordergrund, sondern die Spiritualität.
Rüter (ref.): In meiner Arbeit spielt die geprägte Religiosität und der Glaube, wie er von der Kirche vertreten wird, in den Begegnungen eigentlich schon länger keine grosse Rolle mehr. Wir sprechen über das, was Menschen bewegt, über die Fragen, die sich ihnen durch die Krankheit stellen. Oder über die Frage, warum Gott das zulässt oder ihnen das zumutet. Ich unterstütze sie darin, ihre eigene Antwort zu finden. Und die ist oft nicht religiös.
Wie oft wird denn die Frage von Gott oder eben der Religion im engeren Sinne thematisiert?
Heinze (kath.): Das ist schwierig zu sagen. Ein Satz, den wir wiederholt hören: «Ich glaube zwar schon an Gott, aber ich gehe nicht jeden Sonntag in die Kirche». Wir tragen das Thema Religion sowieso in die Begegnung rein – ob wir wollen oder nicht. Als Pfarrer, als Seelsorger ist das Thema Religion präsent. Sei es, dass wir freudig begrüsst werden. Sei es, dass uns mit Distanz begegnet wird. Welchen Raum das Thema Religion im Gespräch einnimmt, und wie ausdrücklich es in der kirchlichen Sprache bearbeitet wird, ist individuell verschieden.
Im Kanton Bern geht man davon aus, dass sich die Seelsorge positiv auf den Gesundungsprozess auswirkt. Deshalb sind die Seelsorger vom Spital bezahlt und sind dort Teil des Teams.
Heinze (kath.): In der WHO-Definition steht die spirituelle Ebene gleichberechtigt mit der medizinischen, psychischen und sozialen. Wir sind noch weit entfernt davon, dies im Alltag ernstzunehmen. Das hängt auch damit zusammen, dass der Begriff spirituell für viele ein Containerbetriff ist. Darunter kann man sehr unterschiedliche Dinge verstehen.
Rüter (ref.): Sie sprechen die Diskussion um Seelsorge und Spiritual Care an. Wenn ich den Begriff der konfessionellen Seelsorge ganz eng denke, dann heisst das, dass ich in der Kirche und in der Glaubenstradition fest verwurzelt bin und als reformierter Seelsorger zu reformierten Patientinnen und Patienten gehe. Und wenn ich den Begriff Spiritual Care extrem denke, muss ich mit der Kirche gar nichts mehr zu tun haben, sondern bin ganz in das Spital und das Behandlungsteam integriert. Dann mache ich therapeutische Arbeit, wie andere Berufsgruppen auch. Ich denke, beide extremen Positionen werden den Herausforderungen der Spitalseelsorge nicht wirklich gerecht.
Wo stehen Sie in diesem Spannungsfeld zwischen konfessioneller Seelsorge und Spiritual Care?
Rüter (ref.): Ich persönlich würde für mich sagen, dass mir die kirchliche Verwurzelung wichtig ist. Sie ist für mich der Boden, ohne den ich meine Arbeit nicht machen könnte. Gleichzeitig ist mir aber auch wichtig, gut in das Spital integriert zu sein, eine gute Zusammenarbeit mit Pflegefachpersonen, Ärztinnen und Ärzten und anderen Mitarbietenden zu pflegen - zum Wohl der Menschen hier im Haus. Wenn Sie so wollen, stehe ich genau auf der Schnittstelle zwischen Kirche und Spital.
Heinze (kath.): Ein Verständnis, das wir – auch über die Konfessionsgrenzen hinweg – mit vielen Kolleginnen und Kollegen teilen!
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