Axel Fabian empfängt den Reporter im Raum der Stille. Der 62-jährige Spitalseelsorger leitet das reformierte Team am Kantonsspital Winterthur. Während des Interviews klopft es; ein Mann schaut herein; er komme später wieder, sagt er. Es ist ein Angehöriger einer erkrankten Person, der mit dem Pfarrer sprechen möchte. Kaum ist das Interview fertig, betritt ein Pfleger den Raum. Er bereitet den Teppich aus und betet.
Herr Fabian, die Kirchen sind leer; ist die Dienstleistung eines Pfarrers wenigstens im Spital noch gefragt?
(Axel Fabian überlegt lange) Ja.... ja... ja - und nein.
Warum nein?
So wie es Menschen gibt, die nicht mehr in die Kirche gehen, gibt es im Spital auch Patienten, die nicht mit uns reden wollen. Die Spitalseelsorger sind die einzigen Personen im Spital, bei denen Patienten sagen können: Nein, Ihre Hilfe brauche ich nicht, ohne dass das für die medizinische Behandlung Konsequenzen hat.
Und weshalb dreimal Ja?
Ich erhielt gerade eben einen Anruf eines Patienten, der mich sehen möchte. Das ist nicht aussergewöhnlich. Sie geben mir Einblick in ihr Leben. Da spüre ich ein Grundvertrauen. Zudem sind unsere Gottesdienste sehr gut besucht. Jeden Sonntag halten wir abwechslungsweise einen ökumenischen, katholischen und reformierten Gottesdienst ab. Es kommen regelmässig so um die 40 Personen, darunter auch Angehörige und Personen vom medizinischen Personal.
Gehen Sie auf die Patienten zu oder warten Sie, bis der Patient nach Ihnen fragt?
Beides. Unsere Aufgabe besteht darin, Patienten aufzusuchen.....
...aber Sie besuchen wohl nicht alle Patienten.
Doch wir bemühen uns darum. Wir haben uns aufgeteilt und besuchen pro Stockwerk die Patienten, vor allem jene, die schon länger da sind. Man nennt dies die aufsuchende Seelsorge.
Erhält eine Person auch dann Besuch von der Seelsorge, wenn sie nur zwei Nächte im Spital ist?
Ja, sofern einer von uns gerade in ihrer Abteilung unterwegs ist. Aber selbstverständlich kommt es vor, dass man Kurzaufenthalter verpasst, da wir nicht jeden Tag gleichzeitig auf allen Stationen sein können.
Sie besuchen also auch Patienten, denen routinemässig eine neue Hüfte montiert wurde?
Ja. Durchaus.
Wie verläuft ein Gespräch mit einem Patienten, der ein harmloses Leiden hat?
Ich kann gerade von einem jüngeren Mann berichten, der auf dem Bau arbeitet und vom Gerüst gefallen ist. Er hat sich den Arm gebrochen und kann das Spital bald verlassen. Er hat mir erzählt, wie froh er sei, dass nichts Schlimmeres passiert sei, am Kopf zum Beispiel. Und dann berichtet er mir, dass er eigentlich Bodybuilder ist und sich Sorgen macht, diesen Sport nicht mehr ausüben zu können. Weiter im Gespräch erfahre ich dann sehr viel über seine Leidenschaft zum Bodybuilding.
Für Sie mag das interessant sein. Aber was hat der Patient davon?
Er hat mir von seiner Not erzählen können, und ich habe zugehört.
Stimmt der Eindruck, dass ein Spitalseelsorger mehrheitlich mit sterbenden Patienten zu tun hat?
Auch wieder Ja und Nein. Das KSW hat ein grosses Tumorzentrum. Krebsleiden ist ein grosses Thema in diesem Spital. Es sterben ja Gott sei Dank nicht alle Krebspatienten. Es ist dann sehr individuell, ob Patienten mit dem Seelsorger reden wollen.
Können wir davon ausgehen, dass Krebspatienten eher ein Bedürfnis haben, mit Ihnen zu sprechen, als Patienten mit einem harmlosen leiden?
Nein, das stimmt nicht. Das kann ich so nicht bestätigen.
Das erstaunt. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ja wissen sie, auch hinter einem sogenannt harmlosen Leiden kann eine ganze Lebensgeschichte stehen, die es erst einmal zu verarbeiten gilt.
Müssen Sie vor allem zuhören oder zureden?
Zuhören ist meine Hauptaufgabe. Während des Zuhörens versuche ich herauszufinden, was die Person für einen religiösen, kulturellen und familiären Hintergrund hat. Ich frage mich beim Zuhören, ob dem Menschen mit Spiritualität, Meditation, psychologischer Betreuung oder bestehender Kontakte geholfen werden kann.
«Die Konfession steht nicht im Vordergrund, schon eher die Spiritualität.»
Sind Sie auch für Angehörige da?
Ja. Gerade in schwierigen Situationen suchen Angehörige häufig mit uns das Gespräch. Beispielsweise heute Nacht hatte ich einen Einsatz gehabt auf der Intensivstation, wo Angehörige nach mir verlangten.
Da wurden Sie aus dem Bett geholt?
Ja.
Wissen Sie vor dem Besuch des Patienten, welcher Religionsgemeinschaft er angehört?
Wenn ich will, könnte ich nachschauen. Das ist häufig aber nicht nötig. Wenn ich aufsuchende Seelsorge mache, so gehe ich im entsprechenden Stock ins Stationszimmer, schaue mir kurz die Liste der Patienten an. Wenn ich sehe, dass ein Patient schon länger da ist, frage ich nach, ob ein Besuch jetzt günstig ist. Dann ich gehe zum Patienten und stelle mich vor.
Wie sprechen Sie sich mit ihrem katholischen Kollegen ab?
Wir arbeiten ökumenisch zusammen. Die Konfession steht nicht im Vordergrund, schon eher die Spiritualität. Sie kann gesundheitsfördernd und stabilisierend wirken. Das ist auch eine Antwort auf die gesellschaftliche Entwicklung.
Wie verhält es sich mit Imanen?
Wir haben gerade einen Studiengang am Laufen. Wir begleiten die muslimischen Frauen und Männer, die hier ein Praktikum absolvieren. Das ist erst der Anfang, für uns aber eine grosse Erleichterung. Wir bekommen Leute zugewiesen, die das KSW und uns schon kennen und die in unserem Haus Besuche machen.
Das zahlen wir mit unserer Kirchensteuer?
Nein, die Muslime arbeiten auf Honorarbasis und werden von der muslimischen Vereinigung in Zürich entschädigt. Und teilweise wird die Finanzierung auch durch den Kanton übernommen.
Und Juden?
Die jüdischen Gemeinden sind im Kanton Zürich anerkannt. Sie haben speziell ausgebildete Rabbinerinnen und Rabbiner, die ihre Mitglieder besuchen.
Und wenn ein Katholik nach der letzten Ölung verlangt? Als reformierter Pfarrer können Sie das Sakrament der Krankensalbung ja nicht ausüben.
Für diese Fälle hat die katholische Seite einen Pikettdienst. Da stehen Priester zur Verfügung, die auf Abruf parat sind. Die reformierte Kirche kennt auch zwei Sakramente, die Taufe und das Abendmahl. Die Taufe kann bei Kindern auch für einen reformierten Pfarrer ein Thema sein.
Sie taufen im Spital?
Ja, es gibt leider Zwischenfälle bis hin zum Tod. Manchmal verlangen die Eltern ausdrücklich, dass das Kind das Sakrament der Taufe erhält.
Auch bei Totgeburten?
Hat es auch schon gegeben. Da ist ein Kind zur Welt gekommen und leider gleich gestorben. Da haben die Eltern gewünscht, dass ich die Taufe vornehme.
Was sind die schwierigsten Momente in Ihrem Beruf?
Die Situationen, die wir eben besprochen haben. Die Situation mit Kindern und Jugendlichen. Auch die Begleitung der Eltern ist anspruchsvoll. Oder wenn bei Kranken verschiedene Schicksalsschläge auf einmal kommen.
Was meinen Sie damit?
Wenn jemand zum Beispiel ein Krebsleiden hat, dann auch noch Probleme mit dem Partner und zusätzlich auch noch Probleme mit dem Beruf hat. Da denke ich oft: Was mutet das Leben dem Einzelnen zu.
Und warum muten Sie sich das alles zu? Sie waren ja vorher über zwanzig Jahre Gemeindepfarrer. Zuerst in Teufen, dann in Diessenhofen.
Ja, das habe ich sehr gerne gemacht.
«Ich bin grundsätzlich für den Menschen da - und übrigens auch für das Spitalpersonal.»
Aber?
Kein Aber. Ich habe schon als Gemeindepfarrer für die Mitglieder der Kirchgemeinde die aufsuchende Seelsorge gemacht - in St. Gallen und auch in Frauenfeld oder in der Klinik St. Katharinental in Diessenhofen, wo ich Gemeindepfarrer war. Ich bin ja auch Gefängnisseelsorger. Da ist mir bewusst geworden, dass ich dieses Eins zu Eins, diese persönliche Seelsorgesituation besonders gerne mache. Auch vom Gegenüber habe ich reflektiert bekommen, dass ich leicht den Zugang finde zu den Menschen. Und so habe ich vor gut neun Jahren an der Uni Bern ein Nachdiplomstudium absolviert.
Wer der Kirche austritt, kann grundsätzlich die Dienstleistung der Kirche nicht mehr in Anspruch nehmen. Wie ist das hier?
Ich bin grundsätzlich für den Menschen da - und übrigens auch für das Spitalpersonal. Das ist noch wichtig zu wissen. Es erleichtert vieles.
Warum das?
Weil wir nicht vom Spital angestellt sind, bilden wir eine Art Scharnier. Der Arzt-und Pflegeberuf kann sehr belastend und konfliktträchtig sein. Da kann es hilfreich sein, wenn man mit einer aussenstehenden Person darüber reden kann. So kann man versuchen, intern Lösungen zu finden.
Pflegefachleute kommen zu Ihnen, wenn sie Probleme haben mit dem Chef?
Ja, das kommt vor. Wir stehen ja unter einer Schweigepflicht. Ich ermutige die Angestellten, selber mit den Vorgesetzten Lösungen zu finden. Auf Wunsch kann mich die Person von der Schweigepflicht entbinden, so dass ich versuchen kann, zu vermitteln.