Im Altersheim Miremont in Leysin VD sollen im Jahr 2019 laut einem Bericht der Beschwerdekommission der Waadtländer Gesundheitsdirektion Bewohner misshandelt und vernachlässigt worden sein.
Demnach soll das Personal eine Bewohnerin 50 Minuten auf der Toilette im Dunkeln vergessen haben. Notfall-Klingeln wurden auf Stumm geschaltet. Hilfspflegepersonen hätten Medikamente ausgewählt und verabreicht. Der damalige Direktor bestreitet die meisten Vorwürfe.
Der Altersmediziner Albert Wettstein sagt im Interview mit Medinside, wo die wahren Missstände in Altersheimen liegen: Zu viele alte Menschen würden zu oft und zu lang mit Medikamenten ruhiggestellt.
Herr Wettstein, hören Sie solche schweren Vorwürfe wie gegen das Altersheim in Leysin zum ersten Mal?
Nein. Es kommt immer wieder vor, dass in Altersheimen Menschenrechte verletzt werden.
Menschenrechte?
Ja, es ist ein Menschenrecht, nach Hilfe rufen zu dürfen. Deshalb darf man niemandem eine Notfall-Klingel wegnehmen oder sie stumm schalten. Genauso darf man niemanden einsperren. Bei gehbehinderten Menschen heisst das auch, dass man sie nicht auf der Toilette sitzen lassen darf.
Und wenn jemand immer wieder klingelt oder sehr viel Zeit auf der Toilette braucht?
Demente Menschen sind nicht immer einfach fürs Personal. Die vergessen manchmal, dass sie kurz vorher schon geläutet haben. Sie kennen sicher die Geschichte mit dem Buben, der zehnmal schreit, der Wolf komme, und nie stimmts. Aber beim elften Mal kommt er tatsächlich und niemand glaubt ihm mehr.
Dann müssen die Altersheim-Angestellten also jedes Mal reagieren, auch wenn sie fast sicher sind, dass es falscher Alarm ist?
Ja, Altersheimbewohner müssen sich jederzeit bemerkbar machen können. Aber klar ist auch: Das Personal muss nicht jedes Mal gleich rennen. Ein Beispiel: Eine Nachtwache ist oft für einen ganzen oder sogar zwei Stockwerke zuständig. Wenn sie eine schwierige Person auf die Toilette begleitet, kann das schnell einmal 20 Minuten dauern. Und dann dauert es halt auch länger, bis sie auf die Klingel eines anderen Bewohners reagiert.
Zur Person
Albert Wettstein (75) befasst sich als Privatdozent an der Universität Zürich mit Altersmedizin. Er ist Leiter der Zürcher Fachkommission der unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2011 war er Chef des Stadtärztlichen Dienstes in Zürich.
Dürfen Hilfspflegepersonen von sich aus Medikamente abgeben?
Natürlich. Das ist doch Alltag: Jede Mutter verabreicht zuhause ihren Kindern Medikamente. Anders ist im Altersheim nur, dass jede Abgabe dokumentiert werden muss.
Beim Fall im Altersheim in Leysin hiess es, dass vor allem der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften ein Problem sei. Würden gut ausgebildete Fachkräfte keine Senioren misshandeln?
Für mich ist das keine Frage der Ausbildung. Das Hauptproblem ist, dass es überhaupt zu wenig Personal hat. Das ist viel schlimmer.
Dann bräuchte es nicht mehr Fachkräfte, sondern einfach grundsätzlich mehr Personal.
Ja. Ein lieber, netter Pflegehelfer ist besser als eine überforderte Pflegefachfrau. Für Menschen ist die menschliche Zuwendung das Wichtigste. Kleine Heime haben übrigens ihr Pflegefachpersonal auch nicht ständig vor Ort, sondern nur auf Pikett.
Das reicht?
Ja. Eine gute Pflege heisst vor allem, eine Beziehung zu den Heimbewohnern aufzubauen. Leider ist die Pflege heute so hochstrukturiert. Dauernd muss protokolliert und dokumentiert werden. Wissen Sie, was wir früher für ein Schimpfwort hatten, für solche durchprogrammierte Pflege? Sauber-satt-trocken-Pflege nannten wir das. Leider bleibt dem Personal oft nur Zeit dafür, diese drei Kriterien zu erfüllen.
Bewohner, die sich gegen das Pflegeprogramm mit Waschen, Füttern und Windelwechseln wehren, bringen den Ablauf durcheinander und verursachen Stress beim Personal.
Ja, Patienten mit Verhaltensstörungen sind ein Störfaktor für solche Pflege. Sie machen viel Arbeit. Und wissen Sie, wie diese Bewohner weniger Arbeit machen? Indem man ihnen Neuroleptika verabreicht. (Anmerkung der Redaktion: Neuroleptika sind Psychopharmaka, welche ruhigstellen und Realitätsverlust bekämpfen). In der Schweiz erhalten über 60 Prozent der Dementen in Pflegeheimen ein Neuroleptikum.
Ohne dass sie es brauchen?
Natürlich ist es manchmal nötig, eine Person kurzfristig zu beruhigen, aber eben: nur kurzfristig. In der Schweiz ist die Abgabe von Neuroleptika aber ein chronischer Missstand. In den USA und in Grossbritannien wird die Abgabe von Neuroleptika streng kontrolliert. Das Resultat: Dort erhalten gerade mal 14 Prozent der Dementen solche Medikamente.
Was ist schlimm an Neuroleptika?
Sie verdoppeln das Sturzrisiko und die Sterblichkeit.
Warum ist die Schweiz so freizügig mit Neuroleptika in Altersheimen?
Da gibt es wohl verschiedene Gründe. Der Kanton mit dem höchsten Beruhigungsmittelkonsum ist Basel-Stadt. Dort ist es wohl die Nähe zur Pharmaindustrie, welche das fördert. Aber es gibt auch sonst wenig Vorbehalte gegen Medikamente in Altersheimen. Das Bundesamt für Gesundheit überwacht bei Schweizer Pflegeheimen sechs Qualitätsindikatoren. Gut schneiden etwa Heime ab, in denen die Bewohner nicht mangelernährt sind oder keine Bettgitter brauchen. Doch ein ganz wichtiges Kriterium fehlt: Wie viele Patienten Neuroleptika erhalten.
Was wäre für Sie die Lösung dieses chronischen Missstandes?
Mehr Personal, das pflegerisch betreut, statt medikamentös. Aber klar: Dann steigen die Pflegekosten, und das will niemand bezahlen. Deshalb wäre es wichtig, wenn das Pflegepersonal in Altersheimen wenigsten nicht seine wertvolle Zeit für Unnützes verschwenden und dauernd vor dem Computer sitzen müsste.