Eine Privatklinik will besser werden, indem sie weniger behandelt

«Wir behandeln zu viel»: Das ist eine ungewohnte Erkenntnis – noch dazu von einem Privatspital. Das Genfer Privatspital La Tour will Gegensteuer geben und Unnötiges reduzieren.

, 24. Juni 2020 um 07:48
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Dieses Genfer Privatspital geht einen neuen Weg: In der Klinik La Tour sind die Ärzte und Ärztinnen dazu angehalten, alle unnötigen Behandlungen zu vermeiden. | PD 
Das Spital La Tour im Genfer Vorort Meyrin geht einen unüblichen Weg, um seine Patienten besser zu behandeln: Die Westschweizer Privatklinik will weniger Medikamente verschreiben und unnötige Abklärungen verhindern.

Gespart wird an Beruhigungsmitteln, Röntgen und Blutentnahmen

Konkret: In der Klinik werden derzeit sieben übliche Routine-Massnahmen genau überwacht und gezählt mit dem Ziel, sie weniger anzuwenden: Verhindert werden soll die unnötige Verschreibung von drei Medikamenten, nämlich Antibiotika, Benzodiazepinen zur Ruhigstellung und Protonen-Pumpenblockern bei Magenbeschwerden. Ebenfalls weniger oft sollen die Klinikärzte Röntgenuntersuchungen, Blutentnahmen, Bluttransfusionen sowie von Dauerkatheter anordnen.
Diese Medikamente und medizinischen Massnahmen werden häufig verschrieben – obwohl sie oft gar nichts nützen oder den Patienten sogar schaden. Der Verein «Smarter Medicine» (siehe unten) zählt sie aufgrund wissenschaftlicher Überprüfung zu jenen Massnahmen, welche die Über- und Fehlversorgungen in der Medizin fördern.

Spitäler verdienen viel Geld mit unnötigen Untersuchungen

Ganz klar ist aber auch: Mit der routinemässigen Anordnung solcher Massnahmen verdienen Spitäler Geld. Umso ungewöhnlicher ist es, dass es sich ausgerechnet ein Privatspital – übrigens das erste in der Schweiz – zum Ziel setzt, weniger zu behandeln. Rodolphe Eurin, Direktor der Klinik La Tour, erklärt im Interview mit Medinside, warum er es trotzdem wagt.
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Heikle Mission für den Spitaldirektor Rodolphe Eurin: Seine Ärzte sollen unnötige Behandlungen weglassen. Vor den Umsatzeinbussen fürchtet er sich nicht. | PD
Herr Eurin, Sie geben freimütig zu, dass in Ihrem Spital überflüssige Medikamente verschrieben und unnütze Massnahmen verordnet werden. Warum machen Ärzte und Ärztinnen das?
Vieles ist zur Gewohnheit geworden und niemand überlegt sich mehr lange, ob ein Medikament oder eine Untersuchung nun wirklich nötig ist. Dazu kommt, dass auch die Patienten gewisse Untersuchungen erwarten.
Aber wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Überbehandlung sogar schädlich für die Patienten sein kann.
Ja, aber trotzdem bin ich überzeugt, dass die Mehrheit der Ärzte die Patienten einfach möglichst gut behandeln wollen. Deshalb ist es wichtig, genauer hinzuschauen und zu untersuchen, wie oft und in welchen Fällen gewisse Medikamente und Behandlungen angeordnet werden. Erst dann merken Ärztinnen und Ärzte plötzlich, dass sie oft ein bisschen zu viel verschreiben und behandeln – einfach deshalb, weil sie zu wenig darauf achten und weil es ihnen nicht bewusst ist. Schätzungen gehen davon aus, dass 20 Prozent aller Behandlungen und Operationen, die von der Grundversicherung übernommen werden, unnötig wären.
Glauben Sie, dass Sie die Gewohnheiten Ihrer Ärztinnen und Ärzte ändern können?
Ja, ich habe festgestellt, dass sie sehr neugierig auf die Resultate der Zählungen sind und sich darauf freuen, ihre Arbeit zu verbessern, indem sie weniger oft Unnützes anordnen.
Gerade Sie als Direktor eines Privatspitals müssten sich eigentlich sagen, dass Ihr Unternehmen von der grosszügigen Anordnung von Untersuchungen profitiert.
Es wäre eine sehr kurzfristige Sicht, eine Verbesserung der Qualität zugunsten des Patienten nicht anzugehen, weil man mehr Umsatz mit mehr Leistungen erreicht. Unser langfristiges Ziel ist, dass die Patienten Vertrauen in ihr Spital haben. Patienten merken, wenn in einem Spital die Qualität höchste Priorität hat und wenn sie zwar weniger, aber besser behandelt werden.
Trotzdem ist es für Sie als Direktor doch eine der wichtigsten Fragen: Haben Sie nicht Angst vor Einnahmenausfällen?
Nein. Ich hoffe sogar, dass wir in gewissen Bereichen weniger verdienen, weil wir künftig keine unnötigen Untersuchungen mehr machen.
Die Einnahmenausfälle müssen Sie aber wieder wettmachen.
Ja. Pro Patienten sinken die Kosten zwar. Aber wir werden dafür mehr Patienten haben.
Wie reagieren anspruchsvolle Privatpatienten darauf, dass ihnen Massnahmen vorenthalten werden, die sie normal oder sogar nötig finden? Sie möchten wohl kaum, dass bei ihnen gespart wird.
Ja, das passiert. Aber man kann ihnen den Nutzen des Sparens gut erklären. Das Ziel ist ja nicht das Sparen an sich, sondern die bessere Behandlung, die sie erhalten.
Wollen Sie künftig noch weitere Behandlungen reduzieren?
Wir wenden diese Philosophie schon lange im Bereich der Sportmedizin und der Orthopädie an. Zum Beispiel bei Operationen der Kreuzbänder. Wir prüfen systematisch, ob eine konservative Behandlung ohne Operation für die Patienten ein besseres Ergebnis bringt.

Das ist «Smarter Medicine»

«Smarter Medicine» ist eine Kampagne, die zum Ziel hat, vernünftige medizinische Entscheidungen zu fördern. Das heisst: Die Bevölkerung soll merken, dass bei gewissen Behandlungen weniger Medizin mehr Lebensqualität für die Betroffenen bedeuten kann.
Verschiedene medizinische Fachgesellschaften haben bereits Top-5-Listen mit unnützen Behandlungen in ihrem Fachbereich erstellt (siehe www.smartermedicine.ch). Dazu gehören auch die Massnahmen und Medikamente, die von der Klinik La Tour derteit überwacht und wenn möglich reduziert werden.
Der Verein, der diese Kampagne fördert, ist 2017 gegründet worden. Der Verein wird getragen von der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und auch von Patientenschutz- und Konsumentenschutz-Organisationen.
Mehrere Spitäler sind Partner des Vereins: Neben der Klinik La Tour sind das die beiden Westschweizer Universitätsspitäler Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) und Hôpitaux Universitaires Genève (HUG), in Zürich das Stadtspital Wald und Triemli und das Spital Limmattal sowie die Tessiner Kantonsspitäler Ente Ospedaliero Cantonale.
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