«Infektionskrankheiten gehören so zum Leben wie der Tod»

In einem Interview mit dem Magazin DEFACTO von Argomed spricht Chefarzt Pietro Vernazza über die Bedrohungslage durch Covid-19, über überstürzte Milliarden-Ausgaben und über den Umgang mit Infektionskrankheiten.

, 10. September 2020 um 06:08
image
  • spital
  • praxis
  • ärzte
  • argomed
  • pietro vernazza
  • coronavirus
Wie haben Sie die Corona-Krise bisher ganz persönlich in Ihrem beruflichen und privaten Umfeld wahrgenommen und erlebt?
Prof. Pietro Vernazza: Beruflich war die Zeit eine grosse Herausforderung. Wir mussten innert kurzer Zeit sehr viel wichtige Informationen zur neuen Krankheit sammeln und die laufend epidemiologischen Daten einordnen. Dabei mussten wir auch die Bedrohungslage für unser Spitalpersonal abschätzen und Massnahmen vorbereiten, ohne unnötigen Aktivismus zu verbreiten. Dabei stelle ich fest, dass meine persönliche Beurteilung der Bedrohungslage von derjenigen im weiteren Umfeld deutlich abweicht. Ich empfinde die Bedrohungslage durch Covid-19 sicher relevant, aber ich empfinde sie nicht als so bedrohlich, wie man bei gewissen Reaktionen manchmal glauben könnte. Bevor wir gegen Kinderkrankheiten impfen konnten, waren Masern und Kinderlähmung viel schwerere Krankheiten. Die Menschen können diese wahren Geiseln der Menschheit nicht mehr richtig einstufen.
«Die Intensivbetten waren nicht stärker ausgelastet als während einer schweren Grippesaison.»
Welche Zwischenbilanz ziehen Sie (im Juni 2020) als Chefarzt Infektiologie des Kantonsspitals St. Gallen bezüglich der Corona-Krise?
In der Ostschweiz waren wir bisher kaum schwer betroffen von Covid-19. Die Intensivbetten waren nicht stärker ausgelastet als während einer schweren Grippesaison. Für das Spital war letztendlich die behördlich befohlene Aufhebung der Planeingriffe ein grösseres Problem. Viele Mitarbeiter hatten keine Arbeit. Die Spitäler in der deutschen Schweiz waren allgemein weniger belastet. Doch es ist noch nicht vorbei: Ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten Monaten schon auch noch mehr Fälle sehen werden.
Wie beurteilen Sie die «Bewältigungsstrategie» der Behörden (Bundesrat, Kantone) im Kampf gegen die Corona- Pandemie?
Die Strategie des Bundes war initial klar, notwendig und gradlinig. Man wollte die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern. Dazu musste man rasch handeln. Das ist gut gelungen. Doch jetzt sind wir in einer neuen strategischen Phase, deren Ziel nicht mehr so klar ist. Heute will man das Aufflackern einzelner Infektionen verhindern. Jeder einzelne Ausbruch soll identifiziert und durch Isolation und Quarantäne eingeschränkt werden, das sogenannte «Containment». Das ist ein hoch gestecktes Ziel und ich bin skeptisch, ob das funktioniert: Eine Infektionskrankheit, ähnlich wie die Grippe, bei der die Hälfte der Übertragungen erfolgt, bevor jemand Symptome hat, ist kaum durch Containment zu verhindern, es sei denn, wir halten für die nächsten zwei Jahre bis zur Impfung am Lockdown fest.
«Dieses doch eher planlose Hinauswerfen von Geldern macht mir Mühe, besonders weil für mich in der Ausbildung unserer jungen Ärztinnen und Ärzten die Frage der Wirtschaftlichkeit immer ein wichtiges Thema war.»
Sie haben in verschiedenen Interviews gesagt, dass die Ökonomen während der Corona-Krise zu wenig Gehör bekommen hätten. Wie meinen Sie das?
Im Bereich der öffentlichen Gesundheit sind wir es gewohnt, Massnahmen ressourcenbewusst zu planen. Nehmen wir die Installation von Defibrillatoren in der Öffentlichkeit. Das kostet eine Menge Geld, man kann dadurch aber auch Leben retten. Nun kann man berechnen, wie viel das kostet: Beim Defibrillator sind das rund 50‘000 Franken pro gewonnenes Lebensjahr. Als Gesellschaft können wir jetzt beurteilen, ob wir diese Investition machen wollen. Bei COVID-19 wurden solche Überlegungen gar nie angestellt. Wir haben recht überstürzt Milliarden-Ausgaben getätigt. Weitere werden folgen. Und irgendjemand muss uns dann vorrechnen, was wir am Ende pro gewonnenes Lebensjahr bezahlt haben. So wie es aussieht, dürfte der Preis deutlich über eine Million Franken pro gewonnenes Lebensjahr zu stehen kommen. Dieses doch eher planlose Hinauswerfen von Geldern macht mir Mühe, besonders weil für mich in der Ausbildung unserer jungen Ärztinnen und Ärzten die Frage der Wirtschaftlichkeit immer ein wichtiges Thema war. Und jetzt sagt man uns, das sei alles nicht so wichtig: Hauptsache, es gibt keine Todesfälle. Es ist, als ob all unsere bisherigen Wirtschaftlichkeitsüberlegungen und auch die bewusste kritische Auseinandersetzung mit der Endlichkeit unseres Lebens jetzt gar keinen Platz mehr haben
«Es wären die gleichen Menschen, die auch jedes Jahr an der Grippe sterben. Auch das akzeptieren wir jedes Jahr.»
Was heisst das konkret? Wie müsste sich unsere Gesellschaft denn auf den Umgang mit dem Corona-Virus einstellen, wenn ökonomische Kriterien über die gesundheitlichen gestellt würden?
Die ökonomischen Kriterien müssten nicht höher gewertet werden. Aber gewertet. Würde der Defibrillator eine Million Franken pro gewonnenes Lebensjahr kosten, würden wir keine Defibrillatoren in der Öffentlichkeit aufstellen. Wir würden das Geld für effizientere Massnahmen einsetzen. Genauso bei COVID-19. Sicher würden wir insbesondere Grossanlässe ein- schränken. Aber im Detailhandel könnten wir lockerer sein, weil das ist nicht der Ort von Übertragungen ist. Wir würden unsere Massnahmen so dosieren, dass nicht keine Fälle mehr auftreten, aber so, dass unsere Spitäler nicht überfüllt würden. Und viele der infizierten Personen würden mild erkranken und geschützt. Unsere Gesellschaft wird auch akzeptieren müssen, dass eine grosse Anzahl Menschen über 80 Jahre in den nächsten Monaten an COVID-19 sterben würde. Wir würden auch versuchen, diese Menschen zu schützen, aber vollständig wird das nicht gelingen. Es wären die gleichen Menschen, die auch jedes Jahr an der Grippe sterben. Auch das akzeptieren wir jedes Jahr. In den ersten Monaten würden sehr viel mehr Menschen an COVID-19 sterben, doch in den folgenden Jahren dürften dann weniger Menschen an der Grippe sterben.
Was mir aber mehr Sorge bereitet ist die Befürchtung, dass unsere Containment-Strategie trotz immensen Kosten am Ende nicht funktioniert. Dann wird COVID-19 seinen Tribut holen, und wir müssen uns dann doch die unangenehme Kostenfrage stellen.
  • image

    Pietro Vernazza

    Chefarzt Infektiologie Kantonsspital St. Gallen

    Pietro Vernazza ist Chefarzt der Infektiologie und seit 1985 beim Kantonsspital St. Gallen tätig. Das Studium der Humanmedizin hat er an der Universität Zürich 1976 – 1982 absolviert. Danach: Klinische Ausbildung Innere Medizin Sursee und St. Gallen, Ausbildung Infek­tiologie St. Gallen und UNC, Chapel Hill, NC, USA. Auf seiner Website www.infekt.ch hat er zahlreiche Artikel zu Corona publiziert

«Ich gehe davon aus, dass die Bevölkerung mehr und mehr realisiert, dass wir uns längerfristig nicht ganz vor COVID-19 schützen können.» 
Der Weg zurück zur Normalität ist umstritten. Jedes Land geht eigene Wege. Wie beurteilen Sie den schweizerischen Weg?
Der aktuelle Schweizer Weg basiert auf der Hoffnung, dass es eine Impfung geben wird und dass sich die jungen Menschen impfen lassen. Da bin ich skeptisch. Bei den älteren Menschen, die am meisten gefährdet sind, dürfte die Impfung, wie bei der Grippe, wenig wirken. Das heisst, die älteren Menschen werden nur von der Impfung profitieren, wenn die jungen Menschen sich impfen lassen. Wie weit es dann mit der Solidarität sein wird, werden wir sehen. Ich gehe davon aus, dass die Bevölkerung mehr und mehr realisiert, dass wir uns längerfristig nicht ganz vor COVID-19 schützen können. Und es wird mehr und mehr Gegenden geben, in denen wie heute in Ischgl ein grosser Teil der Bevölkerung die Krankheit durchgemacht hat.
Sehen Sie im internationalen Kontext noch Verbesserungspotenzial bei der Bekämpfung des Corona-Virus? Wie beurteilen Sie die Aktivitäten der WHO
Die Hälfte der Übertragungen erfolgt von symptomlosen Personen. Die wenigsten haben Fieber, wenn sie eine andere Person anstecken. Daher hat Temperatur- messen an den Flughäfen keinen Sinn. Die entsprechenden Behörden wissen das. Und trotzdem wird es gemacht. Sicher gibt es mehr solche fragwürdigen Punkte. Aber insgesamt macht die WHO eine wichtige Arbeit.
«Verglichen mit dem H5N1-Virus, dem hochpathogenen Vogelgrippevirus, ist COVID-19 geradezu ein harmloses Schnupfenvirus.»
Was lernen Sie aus der Corona-Krise für die Zukunft im Hinblick auf eine mögliche zweite Welle?
Infektionskrankheiten gehören so zum Leben wie der Tod. Wir müssen lernen, damit umzugehen. Die hohe Dichte der Menschheit wird die Chance von Pandemien erhöhen. Bei einer nächsten Pandemie werden wir uns vermutlich nicht mehr so grosse Sprünge leisten können. Verglichen mit dem H5N1-Virus, dem hochpathogenen Vogelgrippevirus, ist COVID-19 geradezu ein harmloses Schnupfenvirus.
Auf Ihrer Website fordern Sie «Stoppt wilde Testaktivitäten. Subito». Warum? Widersetzen Sie sich damit nicht gegen die bundesrätliche Test-Strategie?
Damals hat das Bundesamt klar gesagt, asymptomatische Personen soll man nicht testen. Jetzt hat der Bund die neue Strategie des Containments gewählt. Jetzt muss man die Strategie so fahren. Ob ein Containment tatsächlich möglich ist, werden wir sehen. Ich bezweifle es. Wenn wir aber heute 10'000 Tests machen, um 50 positiv zu testen, dann müssten wir uns auch fragen, ob diese 1.5 Million Franken pro Tag effizient eingesetzt sind.
Welchen Rat (oder Tipp) geben Sie als Infektiologe den Hausärzten: Wie geht eine Hausärztin richtig mit der COVID-19-Pandemie um?
Mit Infektionskrankheiten müssen wir respektvoll umgehen. Aber wir müssen akzeptieren, dass wir sie nie ganz verhindern können. Das wissen die Hausärzte aus ihrem Berufsalltag besser als wir Infektiologen.
Dieses Interview ist in der aktuellen Ausgabe des Magazins DEFACTO erschienen, herausgegeben von der Managed-Care-Organisation Argomed. Dem Unternehmen mit Sitz in Lenzburg sind rund 700 Hausärztinnen und Hausärzte angeschlossen. Vielen Dank für die Nachdruckgenehmigung. 

  • DEFACTO 2/2020 Argomed 

Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

H+: Vorstand ist wieder komplett

Monika Jänicke, David Bosshard, Susanne Rodewald und Guido Speck sind neu im Vorstand des Spitalverbandes.

image

CHUV: Gericht schiebt IT-Beschaffung auf die lange Bank

Bevorzugen Schweizer Spitäler bei ihren Ausschreibungen für ein neues Klinikinformations-System den US-Anbieter Epic? Die Frage wird auch in der Romandie akut.

image

Unispitäler häuften 210 Millionen Franken Verlust an

«Wir sind hart vor der finanziellen Kante»: So der Befund von Werner Kübler, dem Direktor des Universitätsspitals Basel.

image

Auch Graubünden will Spitäler mit 100 Millionen stützen

Das Geld würde aber nicht direkt an die Betriebe gehen. Zudem sollen Spitäler leichter in Gesundheitszentren verwandelt werden können.

image

Brustkrebsscreening bald auch in Baselland

Während immer mehr Kantone Brustkrebsscreenings einführen, wird der Nutzen in Zürich hinterfragt.

image

Spitalverbundsinterne Lösung: Nicole Ruhe wird CEO in Uznach und Wil

Die heutige CEO des Spitals Linth wird mit dem Zusammenschluss der St.Galler Spitalverbunde zu «HOCH Health Ostschweiz» eine Doppelfunktion übernehmen.

Vom gleichen Autor

image

Arzthaftung: Bundesgericht weist Millionenklage einer Patientin ab

Bei einer Patientin traten nach einer Darmspiegelung unerwartet schwere Komplikationen auf. Das Bundesgericht stellt nun klar: Die Ärztin aus dem Kanton Aargau kann sich auf die «hypothetische Einwilligung» der Patientin berufen.

image

Studie zeigt geringen Einfluss von Wettbewerb auf chirurgische Ergebnisse

Neue Studie aus den USA wirft Fragen auf: Wettbewerb allein garantiert keine besseren Operationsergebnisse.

image

Warum im Medizinstudium viel Empathie verloren geht

Während der Ausbildung nimmt das Einfühlungsvermögen von angehenden Ärztinnen und Ärzten tendenziell ab: Das besagt eine neue Studie.