Was ist Konsens?
Gibt es tatsächlich bereits einen wissenschaftlichen Konsens? Beim Auftreten einer neuen Erkrankung ist es fast unmöglich, alle Details zu kennen. Der wissenschaftliche Fortschritt lebt von der Kritik. In einem dialektischen Prozess stellen wir uns fortlaufend infrage, formulieren Hypothesen, die wir später wieder verwerfen. In kleinen Schritten bringt uns das der Wahrheit näher. Diese Diskussion muss mehrdimensional laufen. Debatten im Elfenbeinturm führen kaum zu Lösungen. Entscheidend ist, dass wir Fragen stellen. Dabei dürfen wir nicht davon ausgehen, dass alles, was gesagt wird, auch richtig sei. Das gilt – nebenbei gesagt – auch für die Politik, die zum Handeln gezwungen ist, obwohl die Faktenlage unübersichtlich ist.
Science first: Evidenz als Leitlinie
Hunderte von Menschen, auch Fachleute, haben mir auf meine Artikel auf
infekt.ch ihr Feedback geschickt, meist zustimmend. Seit Beginn der Epidemie vertrat ich eigentlich immer die gleiche Haltung: Wir haben es mit einer neuen, schweren Krankheit zu tun, die wir sehr ernst nehmen müssen. Wir müssen uns überlegen, wie wir mit der Epidemie klug und besonnen umgehen. Ich habe mich nie gegen gut begründete Massnahmen gewendet, im Gegenteil: ich hatte immer klar gesagt, dass der erste Lockdown unumgänglich und richtig war. Doch wir müssen längerfristig einen Umgang mit der Krankheit finden, der evidenzbasiert ist und über eine längere oder sogar sehr lange Zeit aufrechterhalten werden kann.
Einzelne Massnahmen müssen wir deshalb kritisch beleuchten. Am 10. Oktober 2020 hatte ich auf
infekt.ch berichtet, dass die Auswertungen der Reise-Quarantäne ergeben haben, dass diese völlig ineffizient ist. Erst drei Wochen später berichtet die «NZZ am Sonntag» – als wäre es eine Neuigkeit – über die Ineffizienz der Massnahme. Doch die Verordnung ist noch immer in Kraft.
Medien klassifizieren rasch
Als ich im Sommer in einem Interview nach alternativen Präventionsmethoden gefragt wurde, hatte ich geantwortet, dass ich den Weg nicht kenne, aber dass wir uns überlegen sollten, ob eine erhöhte Immunität bei jungen Menschen nicht doch vielleicht nützlich wäre. Ich wurde von den Medien gleich zum «Durchseuchungsvertreter» abgestempelt. So schnell geht das heute im medialen Wettstreit um Aufmerksamkeit.
Schade eigentlich, denn eine vertiefte Diskussion hätte sich vielleicht gelohnt. Aus irgendeinem Grunde sehen wir gegenwärtig in Schweden trotz steigender Infektionszahlen keinen Anstieg der Todesfallzahlen, wie wir es in der Schweiz und anderen Ländern beobachten. Möglich, dass die Immunisierung im Sommer jetzt einen Vorteil bringt. Ich weiss es nicht. Die wissenschaftliche Diskussion müsste aber geführt werden. Und wir führen daher unsere Forschungsarbeiten zur zellulären Immunität weiter.
Auf dem Boden bleiben
Eigentlich – so meine subjektive Wahrnehmung – war ich immer mit sehr konstanten Aussagen unterwegs: Wir haben es mit einer schweren Krankheit zu tun, wir müssen Massnahmen ergreifen, doch diese sollen sinnvoll, evidenzbasiert und vor allem auch langfristig umsetzbar sein. Diese Massnahmen müssen nicht nur gut begründet sein. Auch die Nachteile – und die Kosten – für Individuum und Gesellschaft müssen einbezogen werden. Der Aufwand, den wir für die Erhaltung der öffentlichen Gesundheit betreiben, muss verhältnismässig sein. Bisher haben wir vergleichsweise kostengünstige, einfache und wirksame Präventionsmassnahmen in anderens Bereichen eher vernachlässigt.
Meine Position ist auch geprägt durch meine persönliche Erfahrung als Kliniker. Im Gegensatz zu vielen Medienvertretern verharmlose ich die Grippe nicht. Auch die Influenza ist eine ernst zu nehmende Infektion. Wenn wir die Altersstruktur der Todesfälle während der Schweinegrippe-Pandemie 2009 auf der untenstehenden Abbildung betrachten, sehen wir, dass damals vorwiegend junge Menschen betroffen waren. Dies war ein völlig anderes Bild als was wir heute bei Covid-19 sehen (Alterstruktur der Todesfälle; orange: 2009 Schweinegrippe, blau: Covid-19).
Dieser Tage erreichte mich ein E-Mail einer Pflegefachfrau, die auf einer Intermediate Care Abteilung arbeitet. «Ihre Aussagen nehmen uns die Angst, aber nicht den nötigen Respekt vor der ganzen Situation.»
Kritiker vs. Befürworter. Nichts dazwischen?
Auch das «St. Galler Tagblatt» erwähnte in einem Interview, ich sei kritisch gegenüber Masken. Nur weil ich sage, dass die Wirkung von Masken überschätzt werde, heisst das nicht, dass ich deren Einsatz nicht unterstütze. Im Gegenteil, ich anerkenne auch die neuen Studien, welche insbesondere einen möglichen Nutzen für die Träger einer chirurgischen Maske beschreiben (Chan, CID, 2020). Solche Daten helfen auch, Menschen zu motivieren, im eigenen Interesse eine Maske zu tragen. Masken sind ein relativ einfaches Mittel mit wenig Nebenwirkungen. Doch sie sind kein Wundermittel, auch wenn gewisse Wirkungen messbar sind. Infektionskrankheiten können auch mit Maske übertragen werden. In unserem klinischen Alltag beobachten wir, dass auch unter optimalen Bedingungen Infektionen nicht vollständig zu verhindern sind. Es gibt zudem Anzeichen, dass SARS-CoV-2 seine Übertragbarkeit noch optimiert hat.
Mit dem Virus leben
Zurzeit sehen wir jeden Tag Erkrankungen bei unseren Mitarbeitenden. Die meisten werden im privaten Umfeld angesteckt. Der Verlauf ist in der Regel zum Glück mild. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass sich ein so weit verbreitetes Virus wie SARS-CoV-2 nicht gänzlich eliminieren lässt. Im Moment möchten wir die Übertragungshäufigkeit reduzieren, um die Spitäler zu schützen. Aber das heisst nicht, dass eine Containment Strategie – der Versuch der 100%-igen Abschottung jeder Infektion – heute noch eine realistische Option ist.
Dieser Tage erreichte mich ein E-Mail einer Pflegefachfrau, die auf einer Intermediate Care Abteilung arbeitet. «Ihre Aussagen nehmen uns die Angst, aber nicht den nötigen Respekt vor der ganzen Situation.» Dies ist mein Ziel: Wir dürfen die Krankheit nicht verharmlosen, sollten auf sie aber nicht mit Panik reagieren, sondern unsere Massnahmen so treffen, dass sie tatsächlich einen möglichst grossen Präventionsnutzen erzielen, ohne der Gesellschaft und der Wirtschaft mehr als nötig zu schaden. Besonders werden wir darauf achten müssen, dass sich die Erkrankung nicht allzu rasch auf besonders gefährdete Gruppen überträgt. Wobei auch die Definition der besonderen Gefährdung wissenschaftlich noch präziser zu definieren sein wird.
Zum Gastautor
Prof. Pietro Vernazza ist Chefarzt der Infektiologie und seit 1985 beim Kantonsspital St. Gallen tätig. Vor seiner Arbeit am Kantonsspital hat er folgende Ausbildungen absolviert: Studium Humanmedizin, Universität Zürich 1976 -1982 / Klinische Ausbildung Innere Medizin 1983-1988, Sursee und St. Gallen / Ausbildung Infektiologie 1989-6/91 St. Gallen, 7/91-9/93 UNC, Chapel Hill, NC, USA
Dieser Artikel ist ursprünglich auf
infekt.ch am 6.November 2020 erschienen.