Ist doch logisch: Da sind die demographischen Anforderungen – immer mehr Patienten. Da ist der allgemeine Fachkräftemangel. Da ist die oft schwierige Berufs-Situation im Pflegebereich (so dass viele Fachleute wieder aussteigen).
Da muss das Personal ja knapp werden im Pflegebereich. Logisch.
Kernfrage: Warum benötigt die Schweiz mehr Pflege als andere?
Doch ernsthaften Widerspruch meldet jetzt Avenir Suisse an. Zwei Autoren des Schweizer Wirtschafts-«Think Tank» liefern bemerkenswerte Gegenargumente (die allerdings bis jetzt kaum beachtet wurden).
Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, das die Schweiz unter den Industriestaaten die höchste Dichte an Pflegefachpersonal hat
(mehr dazu hier); dabei sind die höheren Ausbildungszahlen der letzten Jahre hier noch gar nicht recht berücksichtigt.
Die Avenir-Suisse-Ökonomen Jérôme Cosandey und Kevin Kienast wechseln nun also die Perspektive und betrachten für einmal nicht das Angebot (zum Beispiel an Pflegepersonal), sondern die Nachfrage (an Pflegeleistungen): Weshalb benötigt die Schweiz hier so viel mehr als vergleichbare Länder in Europa und Nordamerika?
Denn immerhin ist der Unterschied gewaltig: Die Schweiz hat laut Daten der Industriestaaten-Organisation OECD 17,4 Pflegefachpersonen pro 1000 Einwohner; der Durchschnitt aller OECD-Länder liegt bei 9,1, also fast halb so tief.
Und dabei wurde die Lage in der Schweiz in den letzten Jahren sogar stetig besser: Im Jahr 2000 gab es hier lediglich 12,9 Pflegefachleute auf 1000 Einwohner. Der Wert lag also vor nicht allzu langer Zeit massiv tiefer als jetzt. Dabei war er selbst damals deutlich höher als heute in unseren Nachbarländern Österreich, Frankreich und Italien.
Oder kürzer: Es dürfte eigentlich genug Pflegepersonal in der Schweiz geben. Und: Es gibt immer mehr.
Schweiz auf Rang 1: Ausgebildetes Pflegepersonal pro 1000 Einwohner (Quelle & Grafik: OECD, «Health at a Glance» 2015)
«Der Fachkräftemangel in der Schweiz lässt sich also nicht nur durch ein knappes Angebot erklären», folgern Cosandey und Kienast. Sondern: Wir haben es zuerst einmal mit einer überaus hohen Nachfrage zu tun. Mit einer Nachfrage obendrein, die stetig steigt.
Warum? Eine Erklärung finden die Autoren in den dezentralen Strukturen des hiesigen Gesundheitssystems: Kaum ein Land hat so viele kleine Spitäler wie die Schweiz, und die Spitäler haben hier im Schnitt weniger Betten als anderswo. Ähnliches gilt auch für den Alters- und Pflegeheim-Bereich.
Viele Spitäler heisst: Viel Bedarf an Pflegepersonal
Das bedeutet: Viele Ressourcen werden nicht optimal ausgelastet – beispielsweise beim Pikettdienst oder auch bei Aus- und Weiterbildungen.
Tönt theoretisch? Ein Beispiel dafür, wie durch grosse Strukturen Personal besser eingesetzt werden kann (womit am Ende der Pflegenotstand gemildert würde), bildet das Prinzip des unlängst eingeweihten
Mercy Virtual Care Center in den USA: Es ist quasi ein riesiges Backup-System für Dutzende Spitäler mit insgesamt 2'400 Betten. All diese Kliniken können einen Teil ihrer Betreuungs-, Überwachungs- und Knowhow-Aufgaben ans Mercy-Zentrum auslagern – im 24-Stunden-Betrieb.
Pflegende sollen sich auf die Pflege konzentrieren können
Dass durch die Organisation ein Teil des Pflegenotstands gemildert werden könnte, schreiben denn auch die Avenir-Suisse-Autoren: «Auch in der ambulanten Pflege müssten neue Modelle entwickelt werden, damit sich Pflegepersonen vermehrt auf die medizinische Pflege und Angehörige auf Pflegehilfe konzentrieren können. Damit könnten wertvolle, qualifizierte Ressourcen besser eingesetzt werden.»
Die Schweiz, so das Fazit, benötige nicht bloss Investitionen in die Ausbildung des Pflegepersonals – sondern auch «die optimale Nutzung bestehender Pflegeressourcen».
Und weiter: «Nur so kann der Fachkräftemangel mittelfristig und nachhaltig entschärft werden.»