Wollen wir ein Leben nach dem Hirntod?

Ein ernsthafter wissenschaftlicher Versuch sucht Wege, um hirntote Menschen zu reanimieren. Doch selbst wenn das klappen sollte: Es ist unklar, welcher Mensch uns danach gegenüberträte. Von Anders Sandberg.

, 12. Mai 2016 um 08:30
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Tot heisst irreversibel. Oder etwa nicht? (Bild: Filmstill «Eva no duerme», Argentinien 2015)
Soeben wurde ein klinischer Versuch angekündigt und bewilligt, der austesten will, wie weit es es möglich ist, das Gehirn von Menschen zu regenerieren, die für klinisch tot erklärt wurden. Beim ReAnima Project sollen Stammzellen, Peptid-Injektionen und Nervenstimulanzien so eingesetzt werden, dass sie den Gehirntod – «nachdem er im klinischen Untersuch oder mittels EEG festgestellt wurde» — rückgängig machen können. Es ist ein Projekt, das sicherlich hohe Werte auf der Ehrgeiz-Skala erreicht.
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    Der Autor

    Der Neurowissenschaftler Anders Sandberg ist James Martin Research Fellow an der Universität Oxford. Der Spezialist für Technologiefolgen-Abschätzung arbeitet dort am Future of Humanity Institute und an der Oxford Martin School.

Die Studie birgt ein kleines Problem – und ein grosses. Der erste Punkt ist unsere Definition von gehirntot, die in sich ja das irreversible Ende aller Funktionen enthält. Wenn das aber heilbar ist, dann waren die Patienten eigentlich nie tot.
Dieses Problem können wir noch umgehen, indem wir anerkennen, dass der Begriff «irreversibel tot» abhängt von der Technologie. Lange galt ein längeres Aussetzen von Atmung und Puls als Kennzeichen des Todes – bis die Wiederbelebungs-Methoden besser wurden. Mit Glück und einigen drastischen medizinischen Interventionen können heute Ertrunkene wiederbelebt werden, die eine extreme Unterkühlung erlitten und über mehrere Stunden ohne Sauerstoff, Puls und Atmung waren. Selbst ohne Herz zu sein heisst heute nicht tot zu sein, wenn man dabei auf dem Operationstisch liegt.
Im ReAnima-Projekt wollen indische und amerikanische Forscher den Hirntod neu in Frage stellen. In einem ersten Versuch wird bei 20 Patienten, die nach einem Hirntrauma für tot erklärt wurden, nach Wiederbelebungs-Ansätzen in den obersten Zervikalsegmenten gesucht. Der Test findet in Indien statt, am Anupam Hospital in Rudrapur.
Angesichts der historischen Erfahrung sollten wir die Möglichkeit nicht ausschliessen, dass mit künftigen Technologien einmal Menschen wiederbelebt werden, die heute als irreversibel tot beurteilt würden. Sollte das ReAnima-Projekt erfolgreich sein, werden wir unser Konzept des Hirntodes revidieren, und vermutlich auch den Status einiger Patienten.
Anzunehmen ist auch, dass dies die künftige Forschung mit menschlichen Körpern erschweren würde, da sie ja potentiell noch zu retten wären.

Wem gehört das Gehirn eigentlich?

Die schwierigere ethische Frage ist, ob solche Methoden der verstorbenen Person helfen würden, oder aber ob sie – vorausgesetzt, es funktioniert – sogar eine neue Person ans Licht bringen könnten.
Allgemein enthält der Begriff der menschlichen Identität auch eine Vorstellung von Kontinuität. Wenn jemand überlebt, genügt uns das rein körperliche Überleben nicht – es sollte auch eine Person mit einer gewissen psychologischen Kontinuität sein. Welche Art von Kontinuität dies ist, wird oft übergangen in den philosophischen Standard-Erläuterungen über persönliche Identität; denn dort interessiert eher die Metaphysik des Geschehens als das Durcheinander radikaler Persönlichkeits-Verwandlung oder von Hirnschäden.
Dieser Artikel wurde ursprünglich publiziert in «The Conversation». Lesen Sie den Original-Beitrag: «Would we want to regenerate brains of patients who are clinically dead?», Mai 2016. Übersetzt mit Genehmigung des Autors.
Im bestmöglichen Fall würde der ReAnima-Eingriff auf wundersame Weise die zuvor für tot erklärte Person restaurieren. Es gäbe eine vollständige psychologische Kontinuität, die Todesurkunde würde für nichtig erklärt, und der Mensch könnte in sein altes Leben zurückkehren. Er würde gewiss davon profitieren – er bekäme eine zweite Chance im Leben.
Aber es ist leicht vorstellbar, dass die Behandlung das Gehirn keineswegs komplett wiederherstellen könnte: Erinnerung, Persönlichkeit und Funktionen dürften durcheinander, verloren oder durch neugebildetes Gewebe umgeformt sein. Eine neue Person mag dann ein Leben führen, das lebenswert ist, und sich seiner Existenz erfreuen. Man könnte sagen, dass diese Person in gleicher Weise davon profitiert wie das Kind etwas davon hat, auf die Welt zu kommen.

Die erste Person wäre wirklich tot

Aber mit begrenzter oder gar keiner psychologischen Kontinuität hätte die Ursprungs-Person nichts von diesem medizinischen Durchbruch: Sie wäre nun wirklich tot, da Körper und Hirn zu einem anderen Menschen geworden sind.
Wenn diese Art der Behandlung aber neue Menschen bildet – wäre sie dann überhaupt wünschbar?
Man hätte es nicht mehr mit einer Behandlung zur Wiederherstellung der Gesundheit zu tun, sondern eher mit einer ungewöhnlichen Art der Reproduktion. Und auch wenn wir uns wünschen, dass irgendetwas von der ursprünglichen Person bleibt, könnten wir genauso gut deren Organe zum Nutzen anderer Menschen zur Transplantation freigeben.

Das wirkliche Problem

Aber das wirkliche Problem wäre natürlich die Möglichkeit, dass wir Menschen schaffen, deren Leben nicht lebenswert ist, oder Lebewesen, die keine Personen sind – aber für deren Wohl wir moralisch weiterhin verpflichtet wären.
Lohnen sich diese Forschungen also? Womöglich helfen sie uns, mehr zu erfahren über die Neuro-Regeneration, was wenigstens wissenschaftlich und medizinisch nützlich sein könnte. Aber das ist immer noch theoretisch.
Andererseits könnten die Ergebnisse auch subtil kontraproduktiv sein. Sobald sie Hoffnungen wecken, würden die ethischen Grenzen enger gezogen, und wenn sie gar vielversprechend wirken, dürfte sich die Wahrnehmung jedes betroffenen Körpers verschieben – von einer anatomischen Spende hin zu einem sehr kranken Patienten.

Eine neue Hoffnung?

Es bedarf eines feinen Urteilsvermögens, um durch diese Fragen praktischer Ethik zu steuern.
Das wahre Problem könnte aber letztlich auch sein, dass ReAnima nicht liefern kann. Die Homepage macht nicht klar, was die Gesellschaft wirklich ist, abgesehen von einer Website, die eine App anbietet. Es würde mich nicht erstaunen, wenn sich das Ganze als Viral-Kampagne für irgendeinen anstehenden Horrorfilm entpuppte, die diverse Medienhäuser zum Narren gehalten hat. Allerdings wurde der klinische Versuch von der FDA registriert, und der CEO scheint eine lebende Persönlichkeit mit wirklichem Ehrgeiz zu sein. 
Geht aufs Ganze anstatt zu versuchen, mit kleinen Schritten vorwärts zu kommen: Dies ein Ansatz, die man der Gesundheitsindustrie schon oft empfohlen hat – verbunden mit dem Vorwurf, dass sie nicht versucht, die wahrlich grossen Probleme zu lösen. Den Tod zu stoppen ist gewiss keine einfache Aufgabe, aber wie hat Autor Seth Godin gesagt? «Auf die perfekte Lösung zu warten ist niemals so schlau wie vorwärtszumachen.»
In Zusammenarbeit mit dem Practical Ethics Blog der Oxford University.
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