Ich teile viele Kritikpunkte, die am elektronischen Patientendossier (EPD) geäussert werden. Die Hürden für die Eröffnung sind hoch, die aktuellen Anwendungsmöglichkeiten inexistent oder uninteressant und folglich liegt auch die Anbindungsrate weit unter den Erwartungen.
Es ist unverständlich, dass das BAG jetzt eine EPD-Informationskampagne startet. Im ersten Schritt sollen die Ärztinnen und Ärzte überzeugt werden, ihren Patientinnen und Patienten die EPD-Nutzung zu empfehlen. Das Vorgehen ist zum Scheitern verurteilt. Solange die Ärztinnen und Ärzte keinen Nutzen haben, können sie auch keine Patienten vom EPD überzeugen. So werden einzig öffentliche Mittel – wir sprechen von mehreren Millionen Franken – verschwendet. Diese Mittel können besser eingesetzt werden.
«Das EDI ist in Sachen digitaler Transformation im Gesundheitswesen mit angezogener Handbremse unterwegs.»
Der SP-Ständerat Hans Stöckli hat in der Sommersession mit dem Gesundheitsminister Klartext gesprochen. Das EDI ist in Sachen digitaler Transformation im Gesundheitswesen mit angezogener Handbremse unterwegs. Dabei ist die Entwicklung im Gesundheitswesen seit Jahren bekannt: es gibt mehr multimorbide und chronisch kranke Patienten, mehr Polymedikation und mehr Behandelnde pro Patient und Fall. Es braucht einen gemeinsamen, sicheren und aktuellen Datenpool, damit die interprofessionelle Zusammenarbeit funktionieren kann. Die Voraussetzungen dazu werden nur zögerlich geschaffen. Es drängt sich auf, für den Datenaustausch EPDs einzusetzen.
Die zentralen EPD-Reformschritte sind bekannt: einfache und niederschwellige Aufnahmeprozesse, eine zentrale Datenhaltung für dynamische Daten, strukturierte und interoperable Daten, praxistaugliche Zertifizierungsvoraussetzungen, die Verpflichtung aller am Behandlungsprozess beteiligten Medizinalpersonen zur EPD-Nutzung und die Tiefenintegration der Primärsysteme.
«Mehrere Punkte könnten auf Stufe Verordnung geregelt werden. Man müsste einfach die Handbremse lösen.»
Mehrere Punkte könnten auf Stufe Verordnung geregelt werden. Man müsste einfach die Handbremse lösen. Bevor die dringende Reform verabschiedet wird, zieht der Bundesrat mit der Vorlage der Übergangsfinanzierung der Stammgemeinschaften eine unnötige Zusatzschlaufe. Öffentliche Mittel für den Strukturerhalt einzusetzen, hat sich noch nie bewährt.
Ein politisch heikler Punkt ist die Verpflichtung der ambulanten Leistungserbringer zur EPD-Nutzung. Die Verpflichtung der Medizinalpersonen hat dann eine Chance, wenn der Nutzen sichtbar und den Aufwand rechtfertigt, Daten ins EPD zu stellen. Das Prinzip der Einmalerfassung und Mehrfachnutzung der Daten (Once-Only-Prinzip) muss zwingend umgesetzt sein. Sonst stossen die EPDs zu Recht auf Ablehnung bei den Anwendern. Trotz Verpflichtung der Spitäler, Heime, Geburtshäuser und neu zugelassene Ärztinnen und Ärzte EPDs einzusetzen, sind erst rund 40 Prozent der Spitäler angeschlossen. Erste Heime geben die EPD-Nutzung wieder auf.
«Es wäre sinnvoller, öffentliche Gelder für funktionierende EPDs einzusetzen als EPDs zu propagieren, die gegenüber einer Dropbox-Ablage kaum einen Mehrnutzen bieten.»
Die Tiefenintegration in die Praxisinformationssysteme kommt seit Jahren nur schleppend voran. Der Bund sollte Standards festsetzen und die Tiefenintegration finanziell fördern. Es ist redlich, dass die Leistungserbringer die Investitionen in die Datenautobahn nicht selber finanzieren müssen. Den Leistungserbringern könnten zum Beispiel Vouchers verteilt werden, die sie bei ihrem Software-Anbieter einlösen können. Es wäre also weit sinnvoller, öffentliche Gelder für funktionierende EPDs einzusetzen als EPDs zu propagieren, die gegenüber einer Dropbox-Ablage kaum einen Mehrnutzen bieten.
«Ob das EPD funktionieren wird, hängt vom politischen Willen und nicht von technischen Fragen ab.»
Leider begnügen sich das EDI und das BAG damit, das EPD im gemächlichen Bundestempo weiterzuentwickeln. So können wir den grossen Rückstand nicht aufholen, der in der Ära des aktuellen Gesundheitsmisters entstanden ist. Aus diesem Grund haben sich die Verbände im Gesundheitswesen zur Allianz «digitale Transformation im Gesundheitswesen» zusammengeschlossen.
Nur wenn die Verbände geeinte Positionen gegenüber der Politik vertreten, können legislatorische Pflöcke eingeschlagen werden, die es für eine funktionierende interprofessionelle Zusammenarbeit braucht. Ob das EPD funktionieren wird, hängt vom politischen Willen und nicht von technischen Fragen ab. Wer einen unbekannten Weg gehen will, braucht einen Plan und einen Kompass. Diese haben in den letzten 12 Jahren gefehlt.
Anna Winter, Präsidentin IG eHealth, Co-Präsidentin Allianz «digitale Transformation im Gesundheitswesen»